Die Akte Grimm

Kapitel 5 - Das Schweigen der Nacht

England, Westküste
Devonshire, Dartmoor
3. November 1898, 18:47 Uhr 

Der Pater hörte einfach nicht auf zu schwafeln. Wie stolz St. George doch auf die Buntglasfenster der Kapelle sei. Was für eine schlimme Geschichte es doch wäre, dass ein harscher Wind vor Wochen wohl eines eben jener Fenster zerstört hatte. Dass sich unweit des kleinen Dorfes der Wistmann's Wood befände, ein von Moosen und Farnen überwuchertes Waldgebiet von Eichen, in dem es angeblich spukte.

»Heidnischen Legenden zufolge, sollen dort die Yeth-Hunde der Wilden Jagd umherstreifen. Selbstredend ist das alles nur Ammengeschwätz.«

Kyle rieb sich mit Zeige- und Mittelfinger angespannt über die Schläfen. Was wusste der Priester schon von der Anderswelt? Oder überhaupt von den Dingen, die mehr als bloße Legenden waren. Woher nahm eine Religion nur immer die Dreistigkeit zu denken, sie sei die einzige, die einen Kern irgendwelcher Wahrheiten enthielt? Und sie damit das Recht besäße, sich über alle anderen zu erheben?

Seine Gedanken schweiften ab, hingen gerade irgendwo in weiter Ferne, sodass ihn das plötzliche Wanken des Wagens unvorbereitet erfasste. Mit einem Mal machte die Kabine einen ordentlichen Satz. Sein Notizbuch rutschte ihm aus den Fingern und landete mit dumpfem Laut auf dem Kutschenboden.

»Was zur Hölle?!«

Ein lautes Knacken durchzog die Geräuschkulisse wie ein Donnergrollen. Als ob jemand einen Bogen mit zu viel Zug belastet hätte und das Holz unter der Belastung schließlich stöhnend zerbrach. Dann begann die Kutsche plötzlich in Schräglage abzukippen und Kyle rutschte auf seiner Bank zur Seite.

»Festhalten!«, rief Dr. Archer. Als hätte man das nicht eh aus Reflex getan!

Sie hörten Fluchen und dann harsche Befehle des Kutschers sowie das schrille Wiehern der beiden Pferde von außerhalb. Das gebrochene Rad eierte und knackte unter der Last des Wagens und hielt dem Gewicht schließlich nicht mehr stand. Es zerbrach laut hörbar mit erneutem Knirschen und der Wagen sackte erneut ein Stück tiefer bis die Achsstange sich in die Straße grub. Erde und Kies wirbelte auf und zog einen Schweif aus Staub hinter ihnen her. Draußen versuchte der Kutscher die aufbäumenden Rösser und die Kutsche wieder unter Kontrolle zu bringen, damit sie nicht gänzlich von der Straße abkämen, sich die Pferde damit verletzten oder sich sogar überschlugen.

Im Innenraum wurden die Passagiere wie Puppen umhergeworfen und griffen aus Instinkt geistesgegenwärtig nach den ledernen Halteriemen an den Seiten ihrer Plätze. Mit einem schnappenden Geräusch, gab Kyles Riemen plötzlich nach und sein Körper ruckte nach vorn. Dr. Archer stemmte innerhalb eines Blinzelns die Beine gegen das Holz der gegenüber liegenden Sitzbank und ein fester Griff schloss sich eisern um seinen Oberarm. Die Kutsche trudelte einige Meter, dann schwang sie zur Seite und blieb dann ruckartig stehen. Vom Momentum erfasst fiel der Priester ihnen entgegen, landete mit einem erschrockenen Aufschrei halb auf, halb zwischen ihnen und gemeinsam polterten die drei mit Schwung gegen die Kutschenwand.