Kapitel 29 - Der Frosch

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England, Westküste
Devonshire, Dartmoor
St. George, Grenzmauer
5. November 1898, 11:43 Uhr


Es war typisch englisches Herbstwetter. Nur hier und da drückte sich ein kleiner Strahl Sonnenlicht wie der Schein einer Signallaterne durch das dichte Wolkenmeer. Überall sonst hatten graue Wolken den Himmel erobert und das Blau dahinter vollständig verdrängt. Es machte den Tag herbstlich trist und grau.


In der Fantasie des jungen Spitzbuben Viktor Graham allerdings, sah die Welt ganz anders aus.


Die von Efeu und Moos überwucherte Mauer erhob sich vor dem furchtlosen Piratenkapitän wie ein gewaltiges Bollwerk. Doch noch nie hatte einen ruchlosen Schurken so etwas aufgehalten. Die Flucht aus dem legendären Gefängnis, bewacht von der grauenhaftesten der grauenhaftesten Foltermeister (Mrs. Warren, seiner Lehrerin) war heute besonders schwer gewesen. Nachdem sie ihn bei seinem Attentat auf die Schulkreide erwischt hatte, glaubte sie tatsächlich, ihn damit brechen zu können, dass sie ihn vor die Tür setzte. Dort sollte er bis zum Ende der nächsten Stunde stehen, fern seiner treuen Crew aus Kielratten. Ihre Lehrerin war sowieso eine alte Vogelscheuche und hackte ständig nur auf ihm herum. Dabei konnte es ihr doch egal sein, mit wem er spielte oder seine Scherze trieb! 


Arrrr! Doch er würde sich von so einer Landratte nicht sagen lassen, was er zu tun oder zu lassen hatte! Es war nicht das erste Mal, dass sich der böse und ruchlose Kapitän V. Blackbeard aus dieser misslichen Lage befreite. Seine Crew musste solange eben selbst zurechtkommen und die Zeit in der Folterkammer bei Geographie absitzen.


Mit einem breiten Grinsen in den Zügen und einem perfekt geeigneten Stock (natürlich seinem scharfen Säbel) den er für seine Abenteuer in einem Busch bei der Schule versteckt gehalten hatte, drückte sich Viktor durch den engen Spalt in der Mauer. Raschelnd fielen die Ranken von Efeu wieder vor seinen geheimen Fluchttunnel aus der Stadt voller königstreuer Soldaten! Kurz spähte er hin und her, dann rannte er los und huschte eilig in den Schutz des hochstehenden Grases. In seiner Brust schlug ein Kaninchen wilde Haken vor Aufregung, weil die Strecke zwischen der Mauer des Forts bis in den Schutz der höheren Büsche der kleinen Waldzunge immer der riskanteste war. Doch keiner der Wachposten schien ihn entdeckt zu haben!


Grillen zirpten irgendwo am Waldesrand und hohes Gras kitzelte ihn an seinen Knien. Mit dem Stock schlug er mutig nach den Lianen, die im wilden Dschungel überall wuchsen. Blätter raschelten dabei zu Boden, während er mit großen Schritten über Stock und Stein hinweg stieg. Dann drückte er sich todesmutig zwischen zwei Büschen hindurch - die geheime Passage zu seinem Geheimversteck! Dahinter erreichte er endlich das endlose Meer, einen Teich inmitten der Umarmung des kleinen Hains. Hier horteten der Pirat und seine Crew manchmal wertvolle Schätze. Also Tand, den sie von anderen geraubt und für sich beansprucht hatten, ehe sie ihn in einer Schatztruhe zwischen den Wurzeln eines Baumes und unter Erde und Laub vergraben hatten. Das hieß: ER hatte es dort vergraben! Denn er war immerhin auch der Kapitän der Crew aus nutzlosen Hunden.


Ein Rascheln zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Tapfer stellte er sich dem Feind entgegen, den Piratensäbel aus Holz mit dem leicht gekrümmten Ende fest in den Händen. Erschrocken taumelte er einen Schritt zurück, als eine große, eklige Kröte aus einem der Büsche sprang.


»Stirb Seemonster!« bellte er dem Monstrum entgegen und schlug mit dem Säbel nach dem Ungetüm. Das jedoch entkam seinem Hieb und hüpfte in einem großen Satz zu dem Teich. Es wollte in das Meer entkommen! Aber da hatte es die Rechnung ohne Kapitän Blackbeard gemacht! Sofort rannte er dem braunen Klops hinterher. Doch ehe er ihn erreichen konnte, sprang das Ding mit einem lauten Platschen in das rettende Nass.

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