Kapitel 25 - Das rote Tuch II.

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Was kurz zuvor im Wald geschah...


England, Westküste
Devonshire, Dartmoor
St. George
5. November 1898, 02:51 Uhr


Weißer Dunst begleitete jeden ihrer Atemstöße. Die Nacht war frostig kalt und der volle, runde Mond wandte sein Gesicht hinter einigen Wolken von dem Anblick in den Tiefen des Waldes ab. Matsch schmatzte unter jedem von Sandras Schritten, während sie humpelnd vorwärts floh. Ihre Lunge brannte so sehr, dass jeder Atemzug ihr wie Feuer erschien. Nadeln stachen ihr inzwischen in die Brust und die Lunge. Dennoch rannte sie. Weiter. Immer weiter. Sie konnte an nichts Anderes denken. Daran, und an diese glühenden Augen, das geifernde Maul und die scharfen Zähne.


Trockenes Astwerk knackte unter ihren Füßen. Wann immer sie den Waldboden berührte, fuhr ihr Schmerz wie eine heiße Messerklinge durch ihren linken Fuß. Heißes Blut hob sich gegen ihre kalte Haut und den spritzenden Matsch ab, der an ihr heraufsprang, wenn sie in eine der Pfützen trat. Ihr rechter Schuh fehlte, sie hatte ihn irgendwo auf der Flucht verloren. Dennoch lief sie weiter, angetrieben von blanker Furcht. Wurzeln, Zweige, Steine und Gestrüpp stachen ihr in das Fleisch. Spitze Äste rissen an ihrem Nachtgewand und dornige Gewächse zogen blutige Wunden in ihre Haut. Kratzer, die sie jedoch wegen der bodenlosen Furcht kaum spürte. Immer wieder hörte sie Knacken, Rascheln. Pranken, die sie verfolgten. Ihre Angst ließ sie weiter rennen, selbst dann, als sie glaubte keinen Schritt mehr tun zu können. Doch irgendwann war ihre Kraft aufgebraucht, ihr Verstand so lahm wie ihre Glieder.


Raue Rinde kratzte an ihren Fingern, als sie sich an einen der Stämme lehnte. Panisch huschte ihr Blick umher. Ihr Herzschlag dröhnte in ihren Ohren, rauschte wie ein wilder Fluss und zog jeden klaren Gedanken in weite Ferne. Verzweifelt schnappten die jungen Lippen nach Luft. Ihre Beine waren schwer und kraftlos - so weich das sie glaubte, jeden Moment einfach zusammenbrechen zu können. Beschwert wie von Blei hob und senkte sich ihre Brust, sog die kühle Luft gierig in ihre Lungen. Längst hatte sie sich im weglosen Wald verirrt, die Lichter des Dorfes waren nicht mehr zu erkennen. Sandra wusste nicht, warum sie in den Wald gelaufen war. Wie hatte sie nur so dumm sein können?! Heiße Tränen brannten auf ihren geröteten Wangen, hinterließen helle Spuren auf der schmutzigen Haut.


Wimmernd tastete Sandra nach ihrem Bein. Blut nässte und verklebte ihr Nachtgewand. Das Mädchen schluchzte auf, weil der Schmerz so furchtbar war und ihr schlanker Körper erzitterte unter dem Schock der Verletzung. »Papa... Mama...« Sie wischte mit den Händen planlos über ihr Gesicht und ihre Augen, verschmierte hier und da rote Schlieren ihres Blutes von ihren Händen auf der hellen Haut. Fahrig strich sie unter bebendem Atem das lange braune Haar aus ihrem Gesicht, in dem sich Blätter und ein paar abgerissene Stücke von kleinen Zweigen verfangen hatten.


Sandra weinte, wimmerte nach ihrer Mutter und ihrem Vater. Sie wollte zurück nach Hause. Sie verstand nicht, was hier passierte oder warum es ausgerechnet ihr zustieß. Sie flehte Gott um Hilfe und Rettung an, betete und bettelte. Leises Gemurmel schwappte über ihre Lippen und sie kauerte sich an einem breiten Stamm zwischen seine Wurzeln.


In diesem Moment hallte ein dunkles Lachen zwischen den Stämmen hervor, als hätte der Teufel selbst ihr flehendes Gebet an den Schöpfer gehört und wollte sich darüber lustig machen. Sandras Kopf fuhr in die Höhe, eine von Blut verklebte Strähne rutschte über ihre Schulter. Sofort hielt sie den Atem an, die Augen geweitet. Doch nichts als finstere Schemen umgaben sie, Nebel der die Formen verwischte... dann drang ein lautes Knacken an ihre Ohren. Ein dicker Ast, der unter dem schweren Gewicht eines Körpers zerbrach. Sandra stemmte sich in die Höhe. Ihr Herz überschlug sich beinahe, als sie die zitternden Glieder an die Wurzel des Baumes legte. Moos kitzelte unter ihren Fingern, ein Blatt trudelte herunter und fiel lautlos zu Boden. Ihr Blick suchte nach dem Ursprung des Geräusches, des Raschelns. Und fand ihn in gelben Augen zwischen schwarzem, zerzaustem Fell.

Die Akte GrimmWhere stories live. Discover now