Kapitel 26 - Die Totenstille

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Was vor ca. 2 Jahren geschah...


Ägyptischer Sudan
Sudan-Provinzen, Nubien
Nubische Wüste
7. Juli 1896, 16:43 Uhr


Benjamin blinzelte und wischte sich mit dem Arm über das von Schweiß nasse Gesicht. Brennende Wüstensonne sorgte an einem wolkenlosen Himmel für eine trockene, glühende Hitze. Sand hing ihm in den Wimpern, zerstreute sich überall auf seiner Haut im Gesicht und auch sonst in jeder Ritze seines Körpers und seiner Ausrüstung. Schon mehrfach hatten ihre Gewehre gestreikt, weil der Sand die Lademechanik verklemmt hatte. Hier, am Ende der Welt, war die penible Pflege ihrer Ausrüstung und vor allem der Waffen deshalb überlebenswichtig. Es entschied vielleicht schon heute darüber, ob man lebte oder verblutend wie ein räudiger Köter im Wüstensand starb.


Es hatte etwas Beruhigendes. Die Waffe zu reinigen, wieder zusammen zu setzen und zu wissen, dass das Werkzeug zum Überleben funktionieren würde, wenn es darauf ankäme. Es gab ihm, zusammen mit anderen unscheinbaren Kleinigkeiten, eine trügerische Sicherheit. Zumindest mehr oder weniger. Denn Sicherheit war eine Illusion an diesem Ort. Im Krieg gab es keine Sicherheit, nicht einmal in den kleinen Siedlungen. Vor zwei Wochen hatte ein älterer Einheimischer ihnen Brot gegeben und kurz darauf spuckten die ersten Scherben aus. Dicke rote Tropfen verschmierten auf dem Brot, trockneten von der Hitze und färbten es in ein hässliches Braun. 


Benjamin hielt in der Bewegung inne und starrte auf seinen Kameraden, aus dessen Mund die grobgekauten Brocken zu Boden fielen. Wie er japste und versuchte zu schreien, an seinem eigenen Blut jedoch würgte und röchelte. Benjamin erinnerte sich an das ekelhafte Knirschen der Scherben in seinem Mund, zwischen seinen Zähnen. Einer seiner Kameraden überlebte den Anschlag nicht, zwei trugen schwere Verletzungen davon. Zum Glück hatten nicht noch mehr davon gegessen. Und obwohl ihn diese Erinnerung immer verfolgen würde, allein weil sie ihn lehrte, wie schnell der Tod im unscheinbarsten Augenblick doch kommen konnte, waren es nicht diese Schatten, die ihn wachhielten. Es mochte simpel klingen. Aber wie alle anderen waren es die Schüsse und die Ungewissheit, zusammen mit den Opfern der Gefechte, die ihn zermürbten.


Es konnte zu jeder Tag und Nachtzeit passieren. Während man döste, fest schlief, versuchte irgendwo seine Hinterlassenschaften zu vergraben. Während man gerade die Waffe reinigte, kochte oder im Lazarett einen Verletzten versorgte. Wenn sie Karten spielten oder sich gegenseitig Briefe aus der Heimat vorlasen, weil das Teilen sie auf eine andere Art zusammenschweißte, als es jemand je verstehen könnte. Wenn wieder eine Geliebte nicht antwortete, wenn sie nicht mehr so oft schrieb. Wenn die Tränen der Mütter die Tinte in den Briefen verwischten oder ein dicker Umschlag mit Bildern aus der Heimat ankam, dann teilten sie diese Dinge ebenso miteinander, wie den letzten Rest an Schnupftabak, Alkohol und Zigaretten.


In einem Moment reichte man seinem Kameraden noch ein abgegriffenes, bereits teilweise zerfleddertes Buch. Im nächsten brach mit donnernden Schüssen die Hölle über sie herein. Und immer blieben am Ende regungslose Körper im Sand zurück. Die ihren oder die der Mahdisten. Der Tod machte keinen Unterschied, die Geier genauso wenig. Manchmal hatten sie nicht einmal die Zeit, die toten Kameraden zu begraben oder zu bergen. Geschweige denn, wenigstens etwas von ihrem Eigentum zu sichern, damit ihre Eltern etwas hatten, dass sie bestatten konnten...


Benjamin wischte sich über den Bart, der sein Gesicht bereits wilder als es ihm gut stand überwucherte. Seit Tagen hatte er sich nicht mehr waschen oder rasieren können. Ebenso wenig, wie er genug geschlafen hatte. In seiner Hand drehte er den silbernen Flachmann, den sein Freund ihm kurz vor seinem Tod geschenkt hatte. Es war so ein kleiner, unauffälliger, eigentlich gar nicht so wertvoller Tand. Ein Flachmann, wie es dutzende, hunderte oder tausende gab. Nur besonders in der Art, in welcher die Gravuren ein wenig sorgsamer statt billig waren, als man sie bei jedem Pfandleiher bekam. Dennoch war es das Wertvollste, das er im Moment besaß. Verschlungene, eingravierte Buchstaben formten auf der Flasche ein „P" und ein „R": Percy Richmond. Sein Daumen strich über die Initialen.

Die Akte GrimmWhere stories live. Discover now