Kapitel 40 - Grimm

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England, Westküste
Devonshire, Dartmoor
St. George, Haus der Fam. Jäger
5. November 1898, 20:57 Uhr


Der Blick der alten Frau glitt zur linken Tür, bemalt mit Ranken und Blumen. Sie wollte dem Verdacht nicht folgen, konnte sich ihm jedoch nicht erwehren. Auch die Augen der beiden Sucher fixierten voller Fassungslosigkeit die Zimmertür. Ihre Gedanken überschlugen sich wie ein Berghang, der sich von einem winzigen Kiesel hatte loslösen lassen und nun auf ein Tal niederrauschte. Unaufhaltsam und verheerend. 


»Anna würde so etwas niemals tun!« stieß die alte Frau unvermittelt harsch aus und erhob sich wieder. Doch ihre Beine und Hände zitterten so sehr, dass sie es nicht verbergen konnte. »Sie ist ein gutes Kind! Sie hat nie jemandem etwas getan!«


Auch Kyle tat sich schwer damit, in diese Richtung zu denken. Dr. Archer jedoch fiel es leichter, als es sollte. Kinder sahen die Welt aus anderen Augen. Er hatte Kinder wider besseren Wissens oder mangels von Alternativen  bereits den Abzug einer Waffe drücken und Steine gegen Köpfe schlagen sehen. Manchmal, wenn ihre Welt zerbrach, nahmen sie die scharfkantigen Scherben in die Hand und benutzten sie als Waffe gegen andere. Einfach, weil sie keine Wahl hatten. Verzweiflung trieb den Menschen über die Grenzen von Moral hinaus und ließ sie wieder mehr zu den wilden Tieren werden, die sie einst einmal gewesen waren. Instinkte ließen sich nicht so leicht niederdrücken, wie es manche gern glauben machen wollten. Der Mensch hatte schon oft bewiesen, dass er zu schrecklichen Taten fähig war. 


Kyle war sich sicher, dass mehr dahinterstecken musste, als sie bisher sahen. Selbst wenn das kleine Mädchen mit Fähigkeiten für Arkane Kunst geboren wurde, konnte dieses Talent sich nicht einfach derartig selbstständig machen. Ihnen fehlten die entscheidenden Teile zur Lösung dieses Rätsels. Er verzog die Lippen und fuhr sich in einer fahrigen Bewegung durch die schwarzen Wellen seiner Haare, wodurch er die sonst so penibel gestriegelte Ordnung durcheinander brachte.


»Wir müssen mit Anna reden, Mrs. Jäger.« meinte Dr. Archer ernst und machte einen Schritt auf das Zimmer des Kindes zu. »Bitte gehen Sie aus dem Weg.«


»Nein!« die alte Frau griff in einer blitzartigen Bewegung auf den Tisch und zog eines der Messer von der Tischplatte. Ein rotweißes Glänzen kroch geschwind wie ein kleiner Blitz über die geschliffene Klinge. Die alte Frau, die dem Doktor weder an Größe noch an Breite ansatzweise das Wasser reichen konnte, baute sich auf, als müsste sie das Mädchen vor Schrecken beschützen und reckte den beiden Männern mutig die Klinge entgegen. Sie war bereit, ihren einzigen Schatz mit Händen und Füßen zu verteidigen. Allein ihren Augen jedoch glänzten die Tränen der Verzweiflung. »Sie nehmen sie mir nicht weg! Sie hat nichts getan!« schrie sie und ihre Finger um den Griff des Messers wurden weiß vom Druck der das Holz umschloss. »Nehmen Sie mich mit! Ich war es!« schwenkte sie plötzlich um und gestand, was sie zuvor so vehement geleugnet hatte.


Sie log. Es war ein Geständnis ohne Schuld. Das vermuteten Kyle und Dr. Archer beide in hohem Maße, auch wenn sie bisher weder für die eine noch die andere Theorie einen handfesten Beweis besaßen. Zu ihrem eigenen Leidwesen verstanden sie natürlich, warum die alte Frau so handelte. Das Mädchen war alles, was sie in diesem fremden Land an Familie noch besaß. Die alte Frau hatte bereits alles verloren und Annabeth war ihr Anker. Es war klar zu erkennen, wie sehr sie das Mädchen liebte. Und die liebende Großmutter wollte tatsächlich lieber gehängt werden, als ihr Kind in einem Arbeitshaus zu sehen. Auch dies war nachvollziehbar - denn dies kam einem Todesurteil gleich.

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