Die Patientin

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Von dem Film hatte ich natürlich nicht viel mitbekommen, die letzten Wochen kosteten mich so viel Kraft, dass ich bei jeder Gelegenheit zur Ruhe zu kommen, auf der Stelle einschlief. Als ich aufwachte hatten wir bereits 21 Uhr. Jake saß mit Headset auf den Ohren, noch immer am Laptop.

Ich stand auf um mir in der Küche ein Glas Wasser zu trinken.


Mit einem Energydrink in der Hand trat ich neben Jake an den Schreibtisch. Er zuckte zusammen, als ich ihm die Dose neben den Laptop stellte. Er war so vertieft gewesen, er hatte gar nicht mitbekommen, dass ich bereits wieder aufgewacht war. Jake beendete eine Wiedergabe auf dem Laptop, drehte sich auf dem Schreibtischstuhl herum und zog mich auf seinen Schoß.

„Tut mir Leid wegen vorhin.", sanft strich er mir über den Rücken und gab mir einen entschuldigenden Kuss.

„Ist schon in Ordnung, wir sind beide im Moment ziemlich angespannt. Darf ich fragen was du dir da angehört hast?"

„Eine Audiodatei.", er beendete die Verbindung zwischen Headset und Laptop.

„Darf ich immer noch nicht wissen was du gefunden hast?"

„Ich habe den Besitzer der Nummer herausgefunden, zu der Michael immer wieder Kontakt hatte."

„Und wer ist es? Kennen wir denjenigen bereits?"

„Er stand permanent in Verbindung zu Dr. Ulric Barret."

„Was? Hannahs Psychiater?"

„Genau der, er hatte Michael einige vertrauliche Dateien zukommen lassen, unter anderem die Audiodatei die ich mir eben angehört habe."

„Jake, was ist auf der Audiodatei zu hören? Du wirkst so besorgt."

„Das kann ich dir nicht sagen, ich hätte mir das gar nicht anhören dürfen."

„Jake? Du machst mir Angst. Was ist darauf zu hören?"

„Entschuldige, ich möchte dir keine Angst machen. Ich denke, dass du dir das selbst anhören solltest, aber lass uns vorher wieder rüber setzen, bevor ich dir das zeige."


Wir setzten uns auf das Sofa und Jake stellte seinen Laptop auf dem Couchtisch ab.

Er legte seinen Arm um mich, küsste mir auf die Schläfe und öffnete die Datei zum abspielen. Angespannt wartete ich auf das was ich gleich zu hören bekommen würde.


Hier spricht Dr. Ulric Barret, ich befinde mich gerade in der Vinzenz-Klink in Duskwood, in der Fachabteilung für Psychosomatik. Es geht um die neunjährige Patientin Lea-Sophie Davis."


Ich erstarrte, als ich meinen Namen hörte, Jake pausierte an dieser Stelle.

„Möchtest du wirklich weiterhören?"

Ich nickte, auch wenn ich nicht wusste was mich erwarten würde, musste ich das hören. Er setzte die Wiedergabe fort.


Seit ihrer Einweisung vor sechs Wochen weist die Patientin Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) auf, unter anderem gekennzeichnet durch nächtliche Albträume, Teilnahmslosigkeit, Angstzustände, Nervosität, Schreckhaftigkeit und Neigung zu Wutausbrüchen. Zudem weist sie einen akuten, selektiven Mutismus auf, sie spricht nur wenig mit ihren Angehörigen und außenstehenden teilt sie sich gar nicht mit. Der Auslöser für diese Form des Mutismus und der PTBS, ist uns aktuell nicht bekannt. Nach Rücksprache mit den Erziehungsberechtigten, Celine und Mark Davis, sind wir zu dem Entschluss gekommen, dass die Behandlung der Patientin in einer privaten Kinder- und Jugendklinik unumgänglich ist. Die Eltern ziehen einen Wohnortswechsel in Erwägung, in Aussicht auf bessere Heilungschancen. Hiermit bitte ich sie um Aufnahme meiner Patientin in ihre private Klinik, weitere Details entnehmen sie bitte den zugesandten Akten, für Rückfragen stehe ich ihnen jederzeit telefonisch zur Verfügung."


Ich weiß nicht wie lange ich dort saß, regungslos starrte ich in die Leere.


Mir wurde schwindelig.


Plötzlich wurde es schwarz um mich herum.


„Lea? Lea!"


Jakes Stimme holte mich langsam zurück, ich zitterte am ganzen Körper.


„Geht es dir gut? Lea, sag doch etwas!"


Ich spürte wie Jake meine Hand hielt.


„Lea?"


„Hallo, wir brauchen sofort einen Krankenwagen, meine Freundin steht unter Schock!..."

„Jake?", flüsterte ich, kaum hörbar.

„Moment...sie kommt gerade zu sich. Lea? ich habe den Notruf am Telefon, ich rufe dir einen Krankenwagen!"

„Kein Krankenwagen!"

„Bist du dir sicher?"

Ich nickte geschwächt.

„Bist du dir wirklich sicher Lea?"

„Ja!"

„Hat sich erledigt, sie ist wieder da und ansprechbar. Sie sagt es geht ohne Krankenwagen. Trotzdem danke, ich melde mich wieder wenn sich ihr Zustand verschlechtern sollte."


Jake reichte mir ein Glas Wasser.

„Geht es wirklich? Sollen wir wirklich keinen Krankenwagen kommen lassen?"

„Es geht schon wieder."

Ich versuchte aufzustehen, doch konnte nicht.

„Bleib liegen, ich bin hier! Sag mir wenn du etwas brauchst!"


Ich blieb liegen und verarbeitete was ich zuvor gehört hatte. Jake lag die ganze Zeit bei mir und ließ mich nicht außer Acht. Seine Nähe war es, die mich davor bewahrte durchzudrehen.


„Meine Eltern haben mich all die Jahre belogen Jake!"

„Nein, sie haben versucht dich zu beschützen. Sie wollten nur dein Bestes."

„Sie haben mir ein falsches Leben vorgeheuchelt, Jake. Sie haben zugelassen, dass ich Alles vergesse. Dinge und Menschen die mir mal wichtig waren. Die mal mein Leben ausgemacht haben. Wie konnte ich das alles nur all die Jahre vergessen?"

„Amnesie?! Du hast es verdrängt und das war wahrscheinlich das beste für dich. Hätte ich zu dem Zeitpunkt, als Hannah mir deine Nummer geschickt hatte, gewusst was passieren würde, hätte ich es niemals so weit kommen lassen. Ich hätte dir diese Aufnahme nicht zeigen dürfen."

„Danke dafür Jake, du bist der einzige der immer ehrlich zu mir war, wenn du nicht wärst, hätte ich vielleicht nie die Wahrheit erfahren."

„Ich habe dich immer zum weitermachen gedrängt. Ich hatte doch keine Ahnung, dass dich das ganze betrifft. Schon gar nicht in diesem Ausmaß. Ohne mich wäre dir einiges erspart geblieben!"

„Oder ich hätte es irgendwann auf andere Weise erfahren und schlimmstenfalls hätte ich dann Niemanden an meiner Seite gehabt. Ich bin froh, dass es so gekommen ist und du die ganze Zeit über bei mir warst und mich nicht allein gelassen hast."

„Ich werde immer versuchen bei dir sein zu können Lea."












Duskwood - the truthWhere stories live. Discover now