68. Ein Mädchen und ihr Drache

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Die beissend kalte Luft zog an Ryan vorbei und liess ihn frösteln. Pandora hatte keine Zeit verloren und war auf direktem Weg zu der Burg geflogen. Ryans Herz pochte schnell in seiner kalten Brust. So lange hatte er Liv nun nicht mehr gesehen. Doch es hat nicht einen Tag gegeben, an dem er nicht an sie gedacht hatte. Er konnte nur hoffen, dass sie ihm nicht den Kopf abreissen würde, wenn sie ihn nun nach so langer Zeit wiedersehen würde. Er kniff die Augen zusammen, um sich gegen Schnee und Wind zu schützen. Die Burg wirkte verlassen und grau. Noch standen Söldner vor dem Eingang und schossen Pfeile auf den Marktplatz. Doch schon bald wäre dies nicht mehr so. Aber Ryan wusste nichts davon. Pandora kurvte nah an den hohen Türmen der Burg entlang. Sie wirkte auf der Suche zu sein. Ihr Kopf war aufmerksam aufgerichtet. Auch Ryan versuchte durch die Fenster der Burg etwas erkennen zu können. Doch die Vorhänge waren meistens gezogen. Pandora flog in Kreisen um die Burg und suchte jedes Stockwerk ab. Plötzlich schien sie etwas bemerkt zu haben, denn im Eiltempo sauste sie den hohen Wänden entlang in die oberen Etagen. Mit ihren Krallen packte sie das Geländer eines kleinen Balkons. Ryan konnte klar und deutlich durch das Fenster blicken. Sofort, als er erkannte, dass Liv gefesselt und geknebelt am Boden sass, sprang er in einem Satz auf den Balkon. Pandoras Flügelschlag wehte den neugefallenen Schnee auf, als sie noch weiter nach oben flog, um auf dem Dach auf Liv zu warten. Sie reckte ihren langen Hals über die Dachrinne und beobachtete wie Ryan sich mit seinem ganzen Körper gegen die Balkontür warf. Nach einigen Anläufen landete er mitsamt der Glastür bei Liv im Zimmer. Die Splitter bohrten sich durch seine durchnässte Kleidung und schnitten ihm die Haut auf. Doch er hatte nur Liv im Kopf. Sie beobachtete ihn mit ihren überraschten grünen Augen wie er zu ihr hin stolperte und sie mit kalten Händen von den Fesseln befreite. «Liv... ich weiss... ich weiss gar nicht, was ich...», stotterte Ryan unsicher als er ihr vorsichtig das Band abnahm, das um ihren Mund gebunden war. Doch Ryan kam gar nicht mehr dazu, sich für alles zu entschuldigen. Liv fiel ihm um den Hals und drückte ihn fest an sich. Ihre Locken fielen ihm ins Gesicht und eine Träne kullerte über ihre blasse Wange. «Ich habe dich so sehr vermisst», flüsterte sie leise und fuhr ihm liebevoll durch die zerzausten, nassen Haare. Ryan war sprachlos. Er konnte es nicht fassen, so von ihr begrüsst zu werden. Er hatte mit Wut und Schlägen gerechnet. Aber bestimmt nicht mit solch einer Umarmung. Leider hatten die Beiden keine Zeit, sich zu freuen. Denn die Zeit drängte. «Wir müssen verschwinden», drängte Ryan und half Liv auf die Beine. Doch sie schüttelte den Kopf. «Im Zimmer nebenan ist Destina eingesperrt, ich lasse sie bestimmt nicht alleine hier bei diesem Monster», erklärte Liv leise und griff in einer Schublade nach der Schere, an der immer noch vertrocknetes Blut klebte. «Vor dem Zimmer sind Wachen postiert, ich werde über den Balkon springen», erklärte Liv entschlossen und trat ins Freie, wo sie ein kalter Wind empfing. Ihre nackten Schultern begannen zu zittern und dar lange Rock wickelte sich um ihre Beine. «Liv warte doch kurz», wollte Ryan sie aufhalten und eilte ihr hinterher. «Unten in der Stadt, die Bürger sind alle...», doch er kam nicht dazu seinen Satz zu Ende zu bringen, als er sah wie Liv sich freute, ihren Drachen endlich wieder zu sehen. Pandora war wieder hinuntergeflogen und hatte sich erneut am Geländer festgekrallt. Sanft berührte Liv die raue Haut ihres Gefährten. Eine magische Stille legte sich auf das Geschehen und nur Pandoras Flügelschlag ertönte regelmässig in der Kälte. Liv hatte die Augen geschlossen und strich den Drachen liebevoll über den grossen Kopf. Ryan wurde warm uns Herz, als er diese Wiedervereinigung erlebte. Er war so froh, diese Beiden endlich wieder zueinander gebracht zu haben. Denn wenn etwas zusammengehörte, dann war das ein Mädchen und ihr Drache. Zu lange waren sie nun getrennt gewesen, doch Liv wusste, dass Pandora noch ein wenig länger auf sie warten müsste. Entschlossen öffnete sie ihre Augen und zog ihre Hand fort. «Ich habe noch etwas zu erledigen», meinte sie leise zu ihrem Drachen und lächelte ihn an. «Liv, die Bürger sind auf den Strassen, sie wollen...», versuchte Ryan erneut zu erklären. Aber Liv brachte den Satz für ihn zu Ende. «Sie wollen den König stürzen und Destina krönen, ich weiss. Pandora hat mir alles erzählt. Dennoch werde ich Destina hier nicht einfach alleine zurücklassen, sie hat mir geholfen und nun werde ich ihr diesen Gefallen zurückgeben.» Ryan konnte sehen, dass Liv von ihrem Plan nicht abzubringen war. Eifrig riss sie sich den viel zu bauschigen Rock von den Beinen. Das Teil war ihr schon lange lästig gewesen. In so etwas konnte man ja überhaupt nicht kämpfen. In den dünnen, knielangen Unterhosen kletterte sie auf das Geländer. Der nächste Balkon war tatsächlich nicht weit entfernt. Aber dennoch war es ein schwieriger Sprung und der Fall führte mindestens 10 Stockwerte in die Tiefe. Barfuss stand Liv auf dem eisigen Geländer und hielt sich an der Mauer der Burg fest. Ryan lächelte beeindruckt. Er konnte erkennen, dass die Gefangenschaft in der Burg Livs wahre Kämpfernatur zum Vorschein gebracht hatte. Stützend heilt er sie an der Hüfte fest. «Du schaffst das», meinte er zuversichtlich. Liv versuchte ihre Atmung zu beruhigen und fixierte den Balkon, der nur wenige Meter weit entfernt lag. Kraftvoll und präzise stiess sie sich schliesslich von ihrem Balkon ab und sprang durch die kalte Winterluft. Ryan hielt den Atem an. Aber Liv landete sicher im Schnee des nächsten Balkons. Mit zittrigen Beinen aber unverletzt. Sie konnte durch das Fenster in das Zimmer blicken und erkannte, wie Destina mit einem Dolch in der Hand auf die eigene Tür eindrosch. Ihre Fesseln lagen zerschnitten am Boden. Liv versuchte die Balkontür einzuschlagen. Sie fluchte und fluchte, als die Tür nicht nachgeben wollte. Doch zum Glück landete plötzlich auch Ryan auf dem Balkon. Er lächelte Liv an. «Lass mich das machen», meinte er und rammte mit seiner Schulter gegen die Tür. Seine Verletzungen kümmerten ihn nicht. Wenn Liv Destina unbedingt helfen wollte, dann würde auch er das tun. Die Tür war bald aufgebrochen und Liv konnte zu der königlichen Witwe hineilen, um ihr den Dolch auf der Hand zu nehmen. «Jetzt beruhig dich bitte, Destina!», drängte sie die aufgelöste junge Frau. «Ich muss Alvaro umbringen!», brüllte sie und hämmerte mit den Fäusten weiter auf die Tür ein. Liv packte sie grob an den Schultern und rüttelte sie. «So wirst du Alvaro bestimmt nicht töten!», erklärte Liv und fixierte Destinas blaue Augen. «Die Bürger sind auf den Strassen, sie kämpfen für dich genau in diesem Moment! Wenn du Alvaro tatsächlich überlisten willst, dann musst du schlauer sein als er und bestimmt nicht einfach auf ihn losstürmen», erklärte Liv und setzte Destina auf ihr Bett. Langsam beruhigte sie sich wieder. «Hör genau zu, Ryan und ich werden die Söldner ablenken», flüsterte Liv und warf einen Blick zu der Tür hin, wo Alvaros Männer Wache hielten. «Du kannst währenddessen mit Pandora in die Stadt fliegen und dich den Bürgern anschliessen. Du bist ihre Anführerin und sie brauchen dich. Gemeinsam werdet ihr dann die Burg stürmen und Alvaro wird so sehr in der Unterzahl sein, dass er sich nicht wehren können wird gegen euch», erklärte Liv schnell und hoffte, Destina würde einstimmen. Aber sie schüttelte vehement den Kopf. «Ich werde Alvaro meinen Dolch an die Kehle halten. Ich werde diesen Tyrannen überlisten», sprach Destina entschlossen. «Das Volk da draussen will mich auf dem Thron sehen, weil ich mich gegen Alvaro wehre und genau das werde ich auch tun. Ich werde bestimmt nicht sie alle in den Tod schicken, wenn ich das alleine auch hinbekommen kann.» Destinas Augen waren bestimmt, ihre Stimme zitterte nicht und niemand konnte sie nun noch von ihrem Vorhaben abhalten. Liv nickte. «Na gut, aber die Söldner werden wir dennoch ablenken, damit du dich unbemerkt zu Alvaro schleichen kannst», meinte Liv einverstanden und gab Destina ihren Dolch zurück. «Aber pass auf dich auf! Das Volk zählt auf dich, nur auf dich», insistierte Liv noch einmal, doch Destina wusste nur zu gut, welche Verantwortung und Aufgabe auf ihren Schultern lastete. Sie nickte den Beiden dankend zu und versteckte sich hinter dem grossen Bett, damit Liv und Ryan die Ablenkung starten konnten. Mit der Bemerkung, Liv könne so etwas doch noch besser gebrauchen als eine kleine Schere, warf Ryan ihr eines seiner Messer zu. Liv holte tief Luft und nickte ihm entschlossen zu. Mit ihm an ihrer Seite hatte sie keine Angst mehr vor den Söldnern. Mit Wucht brach Ryan die verschlossene Tür auf und stürmte in den Flur hinaus. Die Söldner, die vor Destinas Zimmer Wache standen, waren völlig überrascht Ryan und Liv zu sehen. Doch sie waren geübte Kämpfer und hatten nach wenigen Sekunden bereits ihre Waffen gezogen und preschten auf die Zwei los. Der Plan war es, die Söldner weg von den Zimmern zu locken, damit Destina unbemerkt hinausschleichen konnte. Doch die Aufgabe erwies sich als schwerer als ursprünglich gedacht, denn es war das doppelte an Wachen postiert, als Liv vorhergesagt hatte. Aber Ryan kämpfte mit all seiner Kraft und so gelang es den Beiden tatsächlich die Söldner kurz zu umgehen, sodass sie dann in eine Richtung fliehen konnten. Alle Söldner, völlig von Zorn getrieben, folgten den Eindringlingen natürlich. Liv fiel ein Stein vom Herzen, als sie sah, dass ihr Plan tatsächlich funktionierte. Ryan warf ihr triumphierend ein Lachen zu. Doch dieses Lachen verging ihm schlagartig. Denn die zwei Flüchtenden trafen plötzlich auf eine weitere Gruppe Söldner, die ihnen den Weg versperrte. Fluchend versuchten Ryan und Liv in die gekommene Richtung zurückzukehren, doch ihre Verfolger hatten bereits aufgeholt und nun waren sie eingeklemmt und zahlenmässig haushoch unterlegen. Die Söldner lachten schmutzig und freuten sich über ihre Beute. Aber Ryan dachte nicht daran sich zu ergeben. Denn im Augenwinkel hatte er ein Fenster entdeckt, das in den Hinterhof der Burg führte. Schritt für Schritt kamen die Söldner näher und drängten Liv und Ryan genau in die Ecke, wo sich das Fenster befand. Ryan warf Liv einen vielsagenden Blick zu. Doch sie schüttelte den Kopf, als sie bemerkte, was Ryans Plan war. Aber er kümmerte sich nicht darum. Mit dem Knauf seines Schwertes schlug er das Fensterglas ein. Die Söldner lachten. «Ich bitte euch, springt doch nur!» Liv warf einen Blick nach draussen. Ihre Augen fanden Pandora auf dem Dach und sobald sich die beiden grünen Augenpaare trafen, wusste der Drache, was zu tun war. Ryan und Liv kletterten auf den dünnen Fenstersims. Liv immer noch barfuss und in Unterwäsche. Aber in Todesangst. Denn wenn die Söldner sie kriegen würden, dann wäre sie so gut wie tot. Der kalte Wind liess sie frösteln, aber im Augenwinkel konnte sie sehen, wie Pandora im Eiltempo herankam. Ryan blickte Liv tief in die Augen. Liebevoll lächelte er sie an. «Ich habe noch nie jemanden besseres als dich getroffen», meinte er herzlich und drückte ihr zart einen Kuss auf die sanften Lippen. Dann stiess er seine Liebe schweren Herzens aus dem Fenster. Denn er hatte einen Bogenschützen unter den Söldnern entdeckt, der seinen Bogen bereits gespannt hielt, bereit zu schiessen. Ryan konnte nicht zulassen, dass Liv von seinen Pfeilen getroffen wurde. Brüllend stürzte er sich in die Menge und schwang präzise nach dem Schützen aus. Seine ersten Schläge wurden abgewehrt, doch kurz darauf traf er ihn tödlich und Pfeil und Bogen prallten auf den Boden. Liv war sicher auf Pandoras Rücken gelandet, doch sie konnte nicht fassen, was sie nun mitansehen musste. Ryan hatte mutig den Kampf mit all den Söldnern aufgenommen, doch er hatte nicht die geringste Chance aus dieser Schlacht lebendig herauszukommen. Er hielt sich tapfer. Aber bald hatten die Söldner ihn mit tiefen Schnitten in die Knie gezwungen. Liv kniff die Augen zu, als sie sah, wie Ryan kraftlos und blutüberströmt seine Waffe fallen liess. Einer der Söldner holte zum entscheidenden Schlag aus. Liv schluchzte laut auf. Noch vor wenigen Augenblicken hatte sie ihn doch endlich wieder in die Arme schliessen können und nun hatte er sein Leben gegeben, um ihres zu retten. Es fühlte sich an, als ob ihre Tränen auf den kalten Wangen einfroren. Genau wie ihr Herz. Was hatte sich Ryan denn nur dabei gedacht.

Die Reise des DrachenmädchensTempat cerita menjadi hidup. Temukan sekarang