1. Die Flucht

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Von den Strassen draussen drangen Schreie von Hass und Schmerz an die Ohren des kleinen Mädchens. Mit grossen, grünen Augen blickte sie nach ihrem Vater, der vorsichtig aus dem Fenster lugte. Ihre Mutter drückte die kleine Hand des Mädchens ganz fest. „Hab nur keine Angst, Süsse", flüsterte sie zitternd und zwang sich ein Lächeln auf. Die Schreie wurden lauter mit jedem Augenblick. Der Vater drehte sich nervös vom Fenster weg und blickte sich suchend um. „Nimm du die Kleine und verschwinde aus dieser Welt. Es ist nicht mehr sicher für uns hier", sprach er dringend und griff nach einem grossen Küchenmesser, das er seiner Frau in die Hände drückte. Doch sie schüttelte entschlossen den Kopf: „Wir trennen uns nicht!". Sie packte den Vater am Arm und blickte ihm fest in die Augen. „Ich weiss, du denkst, du kannst mit ihnen sprechen. Aber hör doch nur! Sie sind in völligem Aufruhr, nichts kann sie mehr stoppen!". Das Mädchen wischte sich nervös eine Strähne lilafarbenes Haar aus dem Gesicht. Noch nie hatte sie solche Angst verspürt. Denn sie wusste genau, was die Schreie draussen zu bedeuten hatten. Sie brachten rohe Gewalt und erbarmungsloser Tod mit sich. Und auch ihre Eltern wussten das. Denn sie waren das Ziel dieses Aufstandes. Sie und alle anderen ihres Gleichens. Menschen, die nicht in diese Welt gehörten. Auf sie wurde nun Jagd gemacht. Das Mädchen zog am Ärmel ihrer Mutter als sie vor dem Fenster einen Schatten vorbeihuschen sah. Tränen stiegen ihr in die Augen. „Wir gehen jetzt!", zischte die Mutter und eilte durch einen Hinterausgang aus dem Haus hinaus. Auf den Strassen herrschte pures Chaos. Menschen rannten in Panik aus der Stadt in Richtung des Waldes. Vom Hügel, auf welchem das Schloss stand, stieg eine dicke Rauchwolke empor. Die Kleine wollte ihre Mutter darauf aufmerksam machen, doch bevor sie wusste, was geschah wurde sie hochgehoben und ihre Eltern rannten den restlichen Menschen hinterher. Über die Schulter ihrer Mutter hinweg konnte das Mädchen ihre Verfolger sehen. Rasend mit allen möglichen Objekten bewaffnet preschten sie durch die engen Strassen. Ihre Augen voller Hass und einige Hände bereits mit rotem Blut beschmiert. Noch nie hatte ihr kleines Herz so schnell geschlagen. Weder vor Freude noch vor Angst. Doch die Eltern erreichten den Wald ausser Atem. Es war nicht mehr weit und dann könnten sie endlich aus dieser Welt verschwinden. Doch plötzlich drang ein tiefes, höhnisches Lachen zwischen den hohen Bäumen hervor und die Fliehenden blieben wie erstarrt stehen. Aus dem Dunkel des Waldes trat eine weitere Meute hervor, schwer atmend und ihre Augen nach Blut dürstend. Doch ein Mann in ihrer Mitte hielt die Angreifer noch zurück. Ein fieses Lächeln zierte sein Gesicht. Neben ihm stand ein Junge, sein Sohn. Blonde zerzauste Locken flatterten im kalten Winterwind und seine blauen Augen durchkämmten die Menschen nach jemandem. „Ihr abscheulichen Menschen habt diese Welt lang genug ausgenutzt und zu Grunde gerichtet. Ihr wurdet toleriert von den Fabelwesen. Aber nun bereite ich dem Allem ein Ende. Ein für alle Mal!", schrie der hochnäsige Mann und seine Augen entflammten vor Wut. Auf sein Zeichen rannte die Meute schreiend los. Und plötzlich sahen sich die Menschen umzingelt von Feinden. Bereit zu Töten. Nicht bereit zu Diskutieren. Von vorne wie auch von hinten hetzten die Rasenden los. Das Mädchen versteckte sich hinter ihren kleinen Händen und presste die Augen ganz fest zu. Doch die Schreie hörte sie noch. Plötzlich fühlte sie wie eine Hand nach ihrem Handgelenk griff und sie grob mitzog. Als sie ängstlich ihre Augen öffnete, sah sie aber keinen der Angreifer, sondern einen kleinen Jungen mit blonden Haaren. Er eilte mit ihr so schnell er konnte aus dem Geschehen hinaus. Als das Mädchen einen Blick zurückwarf, konnte sie nur noch sehen wie die beiden Fronten auf die wehrlosen Menschen trafen und sie gewaltsam niedermetzelten. Auch ihre Mutter und ihren Vater. Sie wollte schreien, doch der Junge hielt ihr eine Hand vor den Mund. Seine roten Augen blickten sie warnend an und sie verstand. Dennoch konnte sie ihre Tränen nicht zurückhalten. Der Junge kümmerte sich nicht gross darum, er rannte schnell weiter. Die Schreie verstummten langsam im Hintergrund und der Junge liess plötzlich den Arm des Mädchens los. Abrupt blieb er stehen und blickte sich unsicher um. Die Kleine jedoch strahlte plötzlich übers ganze Gesicht. Denn der Junge hatte sie zu ihrem Drachen gebracht, der von dem ganzen Trubel nichts mitbekommen hatte. Fröhlich fiel sie dem lila Drachen um den langen Hals. „Wie geht's dir denn, Pandora?", flüsterte sie und lächelte das Tier an. „Du musst sofort von hier verschwinden", meinte der Junge eindringlich, „so schnell du kannst. Nimm deinen Drachen und flieg los." Leicht verwirrt tat sie, was der Junge verlangte und stieg auf Pandoras Rücken. Sie würde das Mädchen heil aus dieser Welt bringen. „Warte!", zischte der Junge plötzlich und kam einige Schritte zurück. „Wie heisst du?", fragte er mit ernstem Blick. Ein Geräusch aus dem Wald liess ihn aufhorchen. In seiner Brust pochte sein Herz gestresst. Jemand musste ihnen gefolgt sein. Er wandte seine Augen eindringlich zurück auf das verunsicherte Mädchen. „Liv", sprach die Kleine perplex als der Drache seine Flügel ausbreitete und kraftvoll vom Boden abhob.

Die Reise des DrachenmädchensWhere stories live. Discover now