31. Wahre Freunde

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Alle vier sassen sie da. In diesem Gasthaus und starrten auf den hölzernen Tisch und die leeren Gläser. Dunkelheit umgab sie. Nur eine kleine Kerze in der Mitte des Tisches spendete etwas Licht. Der Wirt und seine junge Bedienung Hazel schliefen bereits. Die Stimmung war wieder einmal betrübt. Alice und Midori konnten Florence nicht befreien und Jack konnte seinen Bruder nicht davon überzeugen auf den Thron zu steigen. Nichts schien ihnen zu gelingen. Jack umklammerte ein leeres Glas, selbst der Alkohol half nicht. Alice spielte mit ihrem Dolch, wartete auf Jacks nächsten Schritt, wartete auf seinen Plan. Doch Jack war ratlos. Er war nicht darauf vorbereitet gewesen, dass es nicht so klappen würde, wie er es sich ausgemalt hatte. Er hatte sich nie Gedanken über einen Plan B gemacht. Und besonders hatte niemand mit diesem Alvaro gerechnet. Midori hob den Kopf und warf einen Blick in die ratlosen Gesichter ihrer Freunde. Was sollte das? Sie wusste, dass Jack im Moment etwas hilflos war, aber das war kein Grund den Kopf so hängen zu lassen. „Jack, ich bitte dich!", brach sie die bedenkliche Stille. „Alice und ich haben herausgefunden wo Flo gefangen gehalten wird! Was hält dich davon ab zu handeln?" Jack hob den Kopf und schaute in Midoris hellbraune Augen. Sie war genervt von diesem ständigen Rumhocken, diesem unnützen Nichtstun. Aber Jack konnte sich keine Fehler leisten. Wenn er jetzt in Gefangenschaft geriet, war die komplette Rebellion führerlos. Natürlich würden sie sich irgendwie schon organisieren können, aber Jack hielt das Ganze nun mal zusammen. Irgendwie und so gut er konnte zumindest. So viele verschiedene Leute mit verschiedenen Vorstellungen, Zielen und Plänen. Es war keine leichte Aufgabe all diesen Ansprüchen gerecht zu werden. Als Jack zum Anführer gewählt worden war, hatte sich dieser Aufgabe gerne gewidmet, doch die Zeiten hatten sich geändert und neue Probleme waren entstanden. Wenn er jetzt handeln würde und ihm dabei etwas geschehen würde, wäre alles, das sich die Rebellion bis jetzt erkämpft hatte, verloren. Mit einem Schlag, all diese Fortschritte zerstört, alles, für das die Rebellen bis heute gekämpft hatten, fort. Als hätten sie nie einen Finger gerührt. „Jack, was hält dich davon ab deinen Arsch zu bewegen und Flo aus den Händen dieser Wiederlinge zu befreien? Sie ist der einzige Grund warum wir überhaupt noch hier sind. Wer weiss, was auf der Insel vor sich geht. Wer weiss, ob Cleo das alles wirklich hinkriegt? Ganz zu schweigen von Ryan, der einfach verschwunden ist und ziemlich wütend auf dich ist. Wer weiss schon, was der im Schilde führt? Wir müssen Flo befreien, damit wir so schnell wie möglich wieder auf die Insel können, die Rebellen brauchen dich, Jack. Cleo kann dich nicht so lange ersetzen. Wir alle brauchen dich, wir brauchen unseren Anführer." Wie wahr diese Worte waren. Jack wusste das. Er wusste all das. „Was soll ich schon tun? Die Burg stürmen?", antwortete Jack lautstark. Midori schwieg. Vielleicht war es genau das, was er tun sollte. Jack wandte den Blick ab, starrte wieder auf sein leeres Glas. „Mit vier Mann?", er schüttelte ratlos den Kopf. Alice schwieg. Draven atmete tief aus und leerte sein Bier. Midori nickte bejahend. „Die Burg ist kein Hochsicherheitstrakt, Jack. Alice und ich sind auch unbemerkt reingekommen. Wir schaffen das. Draven ist der beste Kämpfer, den ich jemals gesehen habe, " –Draven hob sein leeres Glas in die Luft, als ob er einen Toast sprechen würde, und warf Midori einen betrunkenes Lachen zu- „und du und Alice könnt genauso gut mit Waffen umgehen, es ist keine unmögliche Aufgabe, Jack. Du musst die Idee nur in deinen Kopf lassen, dann siehst du, dass es viel einfacher ist, als du denkst. Ich mische euch das stärkste Gift und ihr tränkt eure Klingen darin. Wir haben eine realistische Chance. Egal was auf der Burg vor sich geht, wir alle wissen, dass es nichts Gutes ist. Hör zu, niemand wird damit rechnen, dass wir die Burg stürmen. Vier Mann können das nicht, sagst du. Ich sage wir sind nicht bloss vier Mann, wir sind vier der besten in unseren Gebieten und das macht uns gefährlich. Weder dieser Alvaro noch der Sohn des Königs wird mit uns rechnen. Die Burg wird kaum bewacht sein und ich erinnere mich genau, wo Flo gefangen gehalten wird. Es wäre so einfach..., denk doch zumindest darüber nach", Midori warf einen Blick in die Runde. Alle sassen da, hatten ihren Worten gelauscht und regten sich nicht. Midori erhob sich entschlossen von dem Tisch, warf einen letzten, erzürnten Blick zu Jack und verschwand in die Dunkelheit. Jack wusste nicht weiter. Doch Midoris Worte ergaben Sinn und Jack schaltete seinen Kopf einfach für einen Moment aus, als er sprach: „Bevor die Sonne morgen über den Horizont steigt, stehen wir in den Hallen der Burg." Und damit traf eine Entscheidung, die er noch bereuen sollte. Jack erhob sich entschlossen vom Tisch. „Legt euch schlafen, morgen werdet ihr fit sein müssen", meinte er bestimmt und lief entschlossen auf die Treppen zu, um in sein Zimmer schlafen zu gehen. Midori lehnte am Geländer der Treppe und lächelte Jack siegessicher zu, als er an ihr vorbeilief. Auch Alice erhob sich schnell vom Tisch und verschwand in ihr Zimmer. Nun sass Draven alleine da. Er hielt Jacks Entscheidung nicht für sehr schlau, er liess sich zu sehr manipulieren von dieser Midori. Draven kannte Jack als einen Mann, der selber wusste, was zu tun war. Seine Position als Anführer der Rebellion hatte ihn verändert, sie hatte ihm viel abverlangt. Doch Jack war keine Person, die brach, egal unter welchem Druck. Er war eine Person, die vielleicht mal am Boden lag, doch sich immer wieder von alleine aufrappelte, zusammenriss und seine Männer stolz machte. Er war ein Vorbild für viele, er zeigte keine Schwäche. Vor Draven konnte Jack nun mal nichts verbergen, zu lange kannten sich die Beiden bereits. Wussten alles voneinander und hatten schon viel gemeinsam durchgestanden. Draven warf einen letzten Blick auf den Tisch voller Elend und Ratlosigkeit und liess ihn in der Dunkelheit zurück. Er klopfte an Jacks Tür und betrat den Raum. Jack sass auf dem Bett, er sah nachdenklich aus. „Du hast eine falsche Entscheidung getroffen", meinte Draven direkt und schüttelte den Kopf. Jack hob die Augen und schaute seinen Freund an. „Du darfst gerne einen Rat annehmen, aber lass dich nicht manipulieren, Jack. Du hast deinen eigenen Kopf mit deinen eigenen, besseren Plänen! Setz dich mal durch, die Leute hier folgen dir, egal was du tust." Jack nickte. „Und doch werde ich diese Entscheidung nicht rückgängig machen", meinte er leise. Draven blickte auf seinen Freund hinab. „Das verlange ich überhaupt nicht von dir. Du hast deine Entscheidung getroffen, jetzt steh auch dazu und zieh es durch, ich bin an deiner Seite", mit diesen Worten verliess Draven das Zimmer wieder und liess Jack alleine mit seiner folgenschweren Entscheidung zurück. Er wusste, dass Dravens Rat nur gut gemeint war, doch da er momentan keine eigenen Pläne hatte, musste er auf Midoris eingehen. Denn er wusste selber genau, dass die jetzige Situation unbedingt geändert werden musste, sonst würde
etwas Schreckliches passieren. Und das wollte Jack um jeden Preis verhindern.
Wie versprochen änderte Jack seine Meinung nicht. Und so machte sich die Truppe am nächsten Morgen nach einer kurzen Nacht, noch bevor die Sonne über den Horizont gestiegen war, zu Fuss zur Burg auf. Vier Rebellen. Entschlossenheit in ihren Augen. Gerechtigkeit in ihren Herzen. Und Waffen in ihren Händen. Jack bildete die Spitze der kleinen Gruppe. Mit einem strammen Schritt ging er voraus. Jack wurde seiner Rolle als Anführer trotz Schwierigkeiten immer wieder gerecht. Ein Mann, zum Führen geboren, so schien es jedem. Die Dunkelheit schützte sie vor neugierigen Augen und erstaunlicherweise waren keine Ritter unterwegs in der Stadt. Der Weg zur Burg war schnell hinter sich gebracht. Niemand schien sie bemerkt zu haben. Das Volk schlief hinter verbarrikadierten Türen und selbst die Burg schien noch zu schlafen. Nirgends waren Ritter postiert, die Ausschau nach Eindringlingen oder anderen Gefahren hielten. Draven runzelte die Stirn und warf seinem besten Freund einen besorgten Blick zu. Er traute dieser falschen Stille überhaupt nicht. Aber Jack würde keinen Rückzieher machen. Nicht jetzt. Er zog diesen Angriff durch, egal wie und um welchen Preis. Zu viert kauerten sie nun vor den gigantischen Mauern der Burg. Es kam ihnen vor, als ob man ihren Herzschlag hören könnte. Midori hatte ein Gift hergestellt und alle Waffen damit eingerieben. Nur ein Kratzer davon und man fiel sofort tot um. Sie waren gut vorbereitet und würden gut zurechtkommen mit den wenigen Wachposten, die aufgestellt waren. Jack warf einen Blick über seine Schulter zu Alice, die ihm am nächsten war, und nickte ihr zu. Alice wiederum gab Midori ein Zeichen und die bezog ihren Posten vor der Burg und behielt alles ein wenig im Auge. Sie rannte geduckt durch die Dunkelheit und versteckte sich hinter einem Gebüsch. Sie sollte Schmiere stehen. Da auch Alice wusste, wo Florence gefangen gehalten wurde, brauchte es die mit Waffen eher ungeschickte Midori nicht. Um Romina scherte sich niemand mehr. Sollte die Verräterin doch in ihrer eigenen Scheisse verrecken. Midori behielt die Fronteingänge im Auge, während Jack sich mit dem Rest der Mauer entlang schlich, bis sie auf der Hinterseite der Burg waren. So leise wie möglich bewegten sich die Drei fort. Doch nirgendwo in der Burg brannte Licht und auch sonst schien die Burg wie leer, beinahe ausgestorben. Unbeirrt richtete sich Jack auf und suchte nach Halt an der steinernen Mauer. Sie würden den Hintereingang nehmen, um weniger Aufsehen zu erregen und um auch leichter wieder fliehen zu können. Er fasste nach einem schlecht verarbeiteten Stein und zog sich daran hoch. Als hätte er in seinem Leben noch nie etwas anderes getan schwang er sich zum nächsten Stein hoch und packte ihn. Alice tat es ihm gleich. Zumindest versuchte sie es. Wölfe waren keine Tiere, die die Kletterkunst besonders gut beherrschten. Doch sie gab ihr Bestes. Jack stand schnell auf der Mauer und bemühte sich Alice zu helfen. Schliesslich standen beide auf der hohen Steinmauer. Hinter ihnen der königliche Garten und vor ihnen der trostlose Wald. Irgendwo dahinter hatten sie ihr Lager gehabt, als sie den Anschlag auf den König verübt hatten. Draven stand vor der Mauer, starrte an ihr hoch. Jack und Alice blickten erwartungsvoll auf ihn hinab. „Draven! Jetzt mach kein Scheiss. Ich brauche dich da drinnen", flüsterte Jack in die Nacht. Draven gefiel der Plan immer noch nicht. Aber er würde Jack überall hin folgen. Brüder taten so was und Draven war sich sicher, dass auch Jack dasselbe für ihn getan hätte. Also griff er leise fluchend nach dem ersten Stein und nach ein paar gekonnten Handgriffen stand auch er neben Jack und nickte ihm zu. Jack lächelte und sprang vorsichtig von der Mauer runter. Ein tiefer Fall. Doch nicht tief genug, um sich zu verletzen. Noch immer schien niemand die Eindringlinge bemerkt zu haben. Ohne auf Widerstand zu treffen betraten sie die Eingangshalle durch eine Nebentür. Einige Kerzen warfen Licht in den viel zu leeren Raum. Jack konnte keinen Ritter entdecken und bewegte sich leise, vorsichtig vorwärts. Ein stumpfes Stöhnen drang an seine Ohren und liess ihn den Atem anhalten. Alice hatte es auch gehört. Angespannt lauschten sie in die Dunkelheit. Dann trat Draven zu den Beiden. Blut tropfte von seinem Dolch. „Wir sind nicht alleine", flüsterte er Alice und Jack zu und warf ihnen einen warnenden, verheissungsvollen Blick zu. Er hatte es ihnen doch gesagt. Es war eine schlechte Idee. Alice schüttelte genervt den Kopf und wollte Draven gerade beleidigen, als sich plötzlich schimmernde Ritter aus den Schatten der Halle lösten und schreiend auf die Drei zustürmten. Draven fluchte und griff nach seinem Schwert. Mit vereinten Kräften gelang es den Drei nach einem langen und harten Kampf die Ritter zu besiegen. Schwer atmend standen sie in der Mitte der Halle und starrten angespannt in die Dunkelheit. Unschlüssig, ob sie es geschafft hatten oder ob noch mehr Ritter kommen würden und Flucht der letzte Ausweg sein würde. „Jack, wir verschwenden die Zeit so nur", drängte Draven und schaute Jack in die nervösen, roten Augen. Jack blickte zu Alice und diese wies ihn mit einer schwarzen Hand in die Richtung der Tür, die zu den Kerkern führte. Jack schlich langsam darauf zu, als Alice, seinen Namen schreiend, auf ihn zu rannte und ihn mit Wucht zur Seite stiess. Eine Sekunde später durchbohrte ein Pfeil ihre linke Brust. Sie schnappte nach Luft und sackte einen kurzen Augenblick später in sich zusammen. Jack kniete sich eilig zu ihr hin, während Draven losrannte, um das hinterlistige Arschloch von einem Bogenschützen ausfindig zu machen. Das Leben war schon aus Alices Augen verschwunden, als Jack ihren Körper auf seine Knie hievte. Der Pfeil hatte sie direkt ins Herz getroffen. Jack hielt Alices leblosen Körper in seinen Händen und schaute in ihre kalten Augen. Eine Träne kullerte aus seinen ungläubigen, weit aufgerissenen Augen. Seine Brust fühlte sich auf einen Schlag unglaublich leer an. Er brachte kein Wort über die zitternden Lippen. Sie war tot. Würde nie wiederkehren und an seiner Seite kämpfen. Sein Kopf füllte sich mit einer unbeschreiblichen Wut. Es war Jacks schuld. Warum hatte sie ihm bloss das Leben gerettet und ihres dafür geopfert. Jack riss sich zusammen und blickte benommen um sich. Doch er konnte Draven nirgends entdecken. Spielte keine Rolle. Er war nicht im Stande einen vernünftigen Gedanken zu fassen. Alice war momentan das einzig Wichtige. Sanft legte er ihren Körper auf den kalten Boden und zog ihr die Maske mit seinen blutverschmierten Händen vom Gesicht. Sie war wunderschön. Er presste die schwarze Maske zitternd gegen seinen Brustkorb und küsste Alice liebevoll auf die kalte Wange. Ein letztes Mal. Dann rannte er los. Steiss die schwere Holztür auf. Griff nach Midoris Hand, die nicht dazu kam, Fragen zu stellen, und rannte weiter. Bloss keinen Blick zurückwerfen, dachte er sich. Bloss nie wieder an diesen schrecklichen Moment denken. Er wollte diesen Morgen aus seiner Erinnerung verbannen. Seine Hände waren voller Blut. Ihr Blut klebte an seinen Händen. In seinem Kopf schrie und tobte es. Wut, Schuld und Trauer. Jack schluchzte leise und musste sich schwach an eine Hausmauer stützen. Midori griff sich ohne zu zögern eine blutige Hand und zog ihn hinter sich her. Sie mussten verschwinden, so schnell wie möglich. Noch war niemand auf den Strassen unterwegs. Obwohl die Sonne bereits ihre ersten Strahlen in die Stadt schickte. Zum Glück hatten sie das Gasthaus schnell erreicht. Midori stellte keine Fragen. Wortlos nahm sie sich ein Tuch und wischte damit das Blut von Jacks Händen, der mit weit aufgerissenen Augen darauf starrte. Alices schwarze Maske lag still auf dem Tisch. Beide schwiegen bedrückt. Eine dunkle Zeit lag vor ihnen.

Die Reise des DrachenmädchensWhere stories live. Discover now