16. Aufbruch

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Liv hatte die Nacht in einem provisorischen Bett im Tempel verbracht und machte sich am Morgen schnell auf den Weg zurück zum Strand und den Rebellen. Im Sand wartete Pandora schon sehnsüchtig auf Liv. Sie tätschelte ihren Kopf. Pandora wies auf die Burg und Liv stieg auf ihren Rücken. Zulange war es her, dass Liv auf ihrem geliebten Drachen geritten war. Sie genoss die kurzen Augenblicke auf Pandoras Rücken. Genoss die Luft, die ihr ins Gesicht wehte und schloss für einen kurzen Moment ihre Augen. Die einzige Wahrheit steckt in dir, hörte Liv den Engel sagen. Sie wünschte sie könnte mehr mit den geheimnisvollen Worten anfangen. Pandora landete beinahe Geräuschlos im Vorhof der Burg und Liv sprang von ihrem Rücken. Sie eilte zur Eingangstür des Versammlungsraums. Ryan wartete schon davor auf sie. Er hatte ein schwarzes Tuch um seinen Hals gebunden. Sonst trug er immer noch seine schwarze Kleidung und die Gurte, die überall um seinen Körper gewickelt waren und in denen viele Klingen versteckt waren. Auf seiner Schulter hockte eine kleine, schwarze Maus. Ryan strich ihr liebevoll über den winzigen Kopf. „Mein Begleittier ist zwar etwas kleiner als deins, aber es kann mindestens genauso viel", meinte er mit einem Lächeln und stiess die schwere Eingangstür auf. In der Mitte des Raumes stand ein langer Tisch und am oberen Ende sass Jack. Neben ihm war noch ein Stuhl frei, der für sie gedacht war. Es waren sicherlich um die 150 Stühle. Liv setzte sich neben Jack und bemerkte, wie alle sie anstarrten und ihre Stärke anzweifelten. Jack hatte die wichtigsten Rebellen zusammengerufen, um den Plan noch einmal in Ruhe und mit allen wichtigen Details durchzugehen, damit sie heute bereits aufbrechen konnten. Den königlichen Ritter, den sie am Strand gefangen genommen hatten, hatte sich nämlich als sehr nützlich bewiesen. Dank ihm wussten die Rebellen nun, dass bereits an diesem Tag der König einen seiner prunkvollen Bälle veranstalten würde. Eine solche Gelegenheit würde sich Jack nicht noch einmal bieten. Jetzt mussten sie handeln. Während die Morgensonne den Raum fahl beleuchtete erhob sich Jack von seinem Platz und begann den Plan ein letztes Mal zu erklären. „Wir werden noch heute Morgen aufbrechen. Wir konnten den gefangenen Ritter befragen und er hat uns mitgeteilt, dass noch heute Abend ein grosser, königlicher Ball stattfinden wird. Diese Gelegenheit werden wir ausnutzen. Alle werden das Kanja Kraut essen, damit wir Unterwasser atmen können. Romina war so nett und hat genug der Pflanze aufgetrieben, damit es für alle ausreicht. Eine Nixe wird uns sicher ans Ufer des Festlandes führen. Mit Schiffen zu gehen wäre viel zu auffällig und offensichtlich, wir müssen das Überraschungsmoment auf unserer Seite haben. Nur Liv wird nicht mit uns schwimmen, sie wird mit Pandora fliegen, denn das Wasserkraut zeigt keine Wirkung bei den Menschen. Einmal auf dem Festland bauen wir versteckt im Wald ein Lager auf und am Abend geht's dann schon los. Liv wird sich gemeinsam mit Florence unter die Gäste mischen. Währenddessen ist der Rest von uns auf den Strassen unterwegs und wir vernichten alle Suchplakate und anderen Dokumente, die über uns existieren. Wir radieren unsere Spuren aus. Trotz dem Schutz der Dunkelheit, will ich, dass sich jeder maskiert. Wir wollen nichts riskieren. Geht überlegt vor und handelt nicht überstürzt. Und ich will auch nicht, dass irgendjemand alleine unterwegs ist. Passt auf einander auf. Ich will keine Verluste zu beklagen haben. Auf der Burg wird Liv währenddessen das Vertrauen des Königs gewinnen und wenn sie zu zweit auf seinem Zimmer sind, wird sie ihn töten. Damit sie aber noch Zeit hat zu verschwinden, wird sie sehr vorsichtig vorgehen müssen. Dass aber auch kein Verdacht auf sie fällt, wird Theo den Tatort nach dem Attentat so präparieren, dass es aussieht wie ein Anschlag von aussen. Er kennt die Burg wie kein anderer unter uns, er hat viele Jahre dort verbracht und kann unbemerkt hinein und wieder hinausgelangen. Er wird den König aber nicht töten, denn Leonardos Reaktionen sind, trotz seines Alters, noch immer blitzschnell und es besteht die Möglichkeit, dass er Theo besiegt. Da ist es viel leichter, wenn der König keinen Verdacht schöpft und Liv freiwillig nah an sich ranlässt. Liv und Florence werden sich dann schnell, aber unauffällig aus dem Staub machen und in das Versteck im Wald zurückkehren. Spätestens am nächsten Morgen müssen wir dann wieder auf der Insel sein." Jack hielt inne, „Verstanden?" Die Leute nickten. „Eine Frage habe ich noch: Was bringt es denn den König umzubringen, wenn er einen Nachfolger hat, der kein Stück besser ist als sein Vater und dazu noch ein verdammt guter Kämpfer?", mischte sich einer der Männer mürrisch ein. Jack nickte langsam. „Ich weiss, was du meinst. Aber für ihn müssen wir uns dann etwas anderes überlegen. Einen besseren Plan. Ich möchte zuerst sehen, wie er reagiert." Der Mann schien nicht sehr zufrieden mit dieser Antwort. Seine Lippe verzog sich abschätzig. Aber es tauchten noch mehr Fragen auf. „Wie hast du vorgehabt unsere Tiere mitzunehmen? Dieses Kanja Kraut wirkt bei ihnen genau so wenig, wie bei den Menschen. Und ohne meinen Begleiter gehe ich nirgendwo hin!" „Ach ja, stimmt. Das muss euch aber jemand anderes erklären", antwortete Jack und schaute eine junge Frau an, die gelangweilt die Füsse auf dem Tisch hatte und mit einer kleinen, seltsamen Maschine in den Händen herumspielte. Erst als sie Jacks Blick bemerkte, schwang sie die Füsse vom Tisch und stand auf. Die Frau trug rot weiss gestreifte, kaputte Strümpfe, einen kurzen Tüll Rock, der vorne auf der rechten Seite hochgerafft war, ein tief ausgeschnittenes Top, eine braune, mit Goldknöpfen verzierten Jacke und schwarze Absatzstiefel. Sie schwang ihre orangen Locken zurück und griff nach einer Art hohlen Glaskugel. Mit einem verschwörerischen Lächeln blickte sie in die Runde. „Das, meine Damen und Herren, ist die Lösung", meinte sie und zeigte stolz mit einer behandschuhten Hand auf die Kugel. Die Leute warfen sich fragende Blicke zu. „Was soll das sein?", rief einer aus der Menge. „Ich habe extra für jedes eurer Tiere eine solche Tauchkugel angefertigt. Ihr müsst den Tieren die Kugel nur über den Kopf ziehen und sie unten bei der Öffnung mit dem angebrachten Band wasserdicht verschliessen. Die Luft in der Kugel ist exakt berechnet und wird für jedes Tier genau reichen", erklärte die Frau schnell. Liv konnte es den Gesichtern der Leute ansehen, dass sie sehr skeptisch waren, denn sie verstanden nichts von dem, was die Dame gerade erklärt hatte. Doch da sie selber keine bessere Lösung hatten, mussten sie sich gezwungenermassen mit dieser Glaskugel zufriedengeben. Ein mürrisches Knurren ging dennoch durch die Menge. Aber dann meldete sich Jack wieder zu Wort. „Packt nur das Wichtigste. Das heisst vor allem Waffen. Ich erwarte euch in spätestens 20 Minuten unten am Strand, bereit, damit wir direkt aufbrechen können. Wir dürfen keine Zeit verlieren." Die Leute machten sich an die Arbeit, um pünktlich beim Treffpunkt zu sein. „Ich muss auch noch packen gehen. Cleo hat für Pandora eine Tasche angefertigt, damit du dein Gepäck besser transportieren kannst. Das Wichtigste, was du mitnehmen musst, sind vornehme Kleider und Schmuck, dass deine Tarnung beim König nicht auffliegt", erklärte Jack kurz und Liv nickte und machte sich auf den Weg zu Pandora. Als sie den Vorhof wieder betrat, wartete Pandora schon auf sie und schmiegte ihren Kopf an Livs Körper zur Begrüssung. Dann erst bemerkte sie, dass diese Frau mit den Tauchkugeln Pandora ein Ledergespann auf den Rücken band. Diese Cleo zog mit voller Kraft an dicken Gurten, um das Gespann zu befestigen. Als sie endlich von den Gurten abliess, wischte sie sich den Schweiss von der Stirne und zog sich den rechten Handschuh aus, um Liv die Hand zu reichen. „Cleo ist mein Name. Freut mich, dich kennen zu lernen, Liv. Ich habe schon viel über dich gehört", stellte sich die quirlige Frau vor. „Hallo. Vielen Dank für dieses Gespann, das ist sicherlich praktisch. Kommst du denn auch mit?" „Natürlich! Jeder kommt mit. Ist 'ne ziemlich grosse Sache. Vermassle es bloss nicht!", lachte sie und schlug Liv freundlich auf die Schulter. „Na dann, viel Glück. Man sieht sich bestimmt, was?", verabschiedete sich die muntere Cleo und verschwand eilig. Jetzt war Liv schon zu spät dran. Schnell schwang sie sich auf Pandoras Rücken und flog zu ihrem Zelt, um ihre Sachen zu packen. Als sie das Zelt betrat, lagen fünf Kleider schön zusammengefaltet auf dem Bett. Auch einen Koffer mit silbernen Rändern stand bereit. Hektisch stopfte Liv die Kleider in den Koffer. Knapp hatten alle Kleider Platz, die leeren Ecken füllte Liv noch mit dem Schmuck. Ihre persönlichen Sachen stopfte sie in eine lederne Umhängetasche. Alle Waffen, die sie besass, waren in ihrem Gürtel. Fluchend über ihre Verspätung eilte sie mit dem schweren Gepäck zu Pandora hinaus. Die Koffer passten perfekt in das Gespann von Cleo. Hastig flog sie schliesslich zum Strand runter, wo bereits alle auf sie warteten. „Du musst losfliegen. Du wirst die Küste später als wir erreichen. Erst am Abend. Dann wirst du hübsch gemacht und auf den Ball gebracht. Ich sehe dich davor aber sicher noch", meinte Jack mit einem zuversichtlichen Lächeln zu ihr. Zum Abschied umarmte er Liv und flüsterte ihr ins Ohr: „Du packst das. Du bist stärker als du denkst." Liv freute sich über die netten Worte. Eilig kletterte sie wieder auf Pandora und hob ab. Mit einem leicht unsicheren Lächeln schaute sie hinter sich. Jack stand bereits im Wasser und winkte ihr kurz zu, bevor er den Blick abwandte. Liv holte tief Luft und versuchte nicht an den Ball zu denken. Sie fokussierte sich auf den Horizont und auf das regelmässige, sanfte Schlagen von Pandoras Flügeln.

Die Reise des DrachenmädchensWo Geschichten leben. Entdecke jetzt