67. Morgengrauen

3 0 0
                                    

Jack wurde aus dem Schlaf gerissen von einem schrillen Schrei. Obwohl er sich fühlte, als hätte er nicht eine Stunde geschlafen, waren sofort all seine Sinne geschärft und sein Herz schlug angespannt. Doch die Dunkelheit verhinderte, dass er irgendetwas erkennen konnte. Nur seine Ohren vernahmen ein schmerzverzerrtes Wimmern, das mit jedem Herzschlag an Kraft verlor. Die Lagerfeuer, die sie am Abend zuvor gezündet hatten, waren bis auf die Glut hinuntergebrannt und keine sonstige Lichtquelle beschien das Geschehen auf dem Marktplatz. Der Mond war hinter dicken Schneewolken verschwunden. Alle, die vom Schrei geweckt wurden, hielten den Atem an. Niemand wusste, was geschah. Plötzlich spürte Jack, wie etwas blitzschnell an seinem linken Ohr vorbeiflog und nur einen Augenblick später ertönte wieder ein schmerzlicher Schrei. «Alle in Deckung!», brüllte er entschlossen in die dunkle Nacht hinaus. Er hörte ängstliches Geflüster und panische Fussschritte, die sich schnell zerstreuten. Hinter den selbsterrichteten Barrikaden suchten die Aufständischen Schutz vor dem Tod, der im Dunklen lauerte. Jack hatte sich an eine kalte Mauer aus provisorisch zusammengehefteten Brettern gelehnt und lauschte in die Nacht. Er konnte nicht sagen, wo die Bogenschützen sich überall platziert hatten, sie könnten sich hinter jeder Ecke und auf jedem Dach befinden. Klar war nur, dass Alvaro sie geschickt hatte, um die Aufständischen in der dunklen Kälte zum Schweigen zu bringen. Die Bogenschützen hatten bestimmt einen guten Überblick auf den Marktplatz. Die Bürger waren ihnen ausgeliefert. Leise fluchte Jack, seine roten Augen waren weit aufgerissen und suchten nach jeder noch so kleinen Lichtquelle. Er konnte fühlen, wie jeder den Atem anhielt und sich nicht zu rühren wagte. Wieder hörte man, wie ein Pfeil durch die Nacht schoss. Dieses Mal traf er jedoch nur dumpf die hölzerne Barrikade. Jack tastete sich am schneebedeckten Boden entlang. Er hatte eine Idee, doch er konnte nicht einfach so in die Dunkelheit hineinbrüllen, da er seine Position nicht verraten wollte. Die Schüsse nahmen zu und Jack presste sich mit aller Kraft gegen die schützenden Barrikaden. Auf allen vieren kroch er ihnen entlang. Schlichtweg in der Hoffnung nicht vom einem der Pfeile, die nun vermehrt auf die Aufständischen geschossen wurden, getroffen zu werden. Zum Glück musste er nicht weit gehen und seine Hände trafen bereits auf eine eiskalte Gestalt, die erschrocken zusammenzuckte, als Jack sie berührte. «Wer ist da?», fragte die Person vorsichtig und Jack erkannte Ryans Stimme. «Ryan! Weisst du wo die Priesterin ist?», drängte Jack. Ryan schwieg für einen Moment. Jack wünschte sich, er könnte sein Gesicht sehen, um zu wissen, was er dachte. Ein weiterer Schrei liess die Beiden zusammenzucken. Die Pfeile durchbohrten mittlerweile im Minutentakt die Nacht. «Sie war direkt neben mir», flüsterte Ryan und nun machten sich die Beiden gemeinsam auf, um Elnara zu finden. Blind tappten sie sich vorsichtig vorwärts. Ihre Handschuhe und auch Hosen waren mittlerweile bereits völlig durchnässt vom schmelzenden Schnee, der den Boden bedeckte. Doch Jack wusste, dass sie Elnara näherkamen, denn er fühlte urplötzlich eine seltsame Wärme. Nur wenn sie endlich wieder Licht hatten, konnten die Rebellen auch gegen Alvaros Männer zurückschlagen. Sie mussten nur sehen, wo sich die Söldner versteckten. Leider hatte Jack das schlechte Gefühl, dass die Bogenschützen nur der Anfang eines grossen Angriffes waren. Alvaro würde ohne Zweifel noch grössere Geschütze auffahren, um sich den elenden Aufständischen zu entledigen. Kurz darauf stiess Jacks Hand auf warme, nackte Haut. Doch Jacks Hand wurde schnell weggeschlagen. «Fass mich nicht an!», zische die Priesterin in die Dunkelheit. «Elnara! Du musst deine Fähigkeiten nutzen und uns helfen zu sehen, wo sich die Bogenschützen befinden», erklärte Jack eilig flüsternd. Eine kleine Flamme, die zwischen Elnaras Daumen und Zeigefinger tanzte, beschien kurz darauf die Gesichter der drei Rebellen. Jack lächelte zufrieden. Seine Haare wirkten beinahe weiss und hingen ihm feucht in die roten Augen. «Hör genau zu: Wenn ich es dir sage, wirst du die Banner wieder anzünden, damit wir uns umsehen können. Sobald wir sehen, wo die Schützen sitzen, können wir sie angreifen», erklärte Jack und blickte Elnara in die sinnlichen Augen. Sie nickte einverstanden. Die kleine Flamme zwischen ihren Fingern erlosch wieder. Glücklicherweise hatte keiner der Söldner das kleine Licht bemerkt. Jack holte tief Luft und rief in die Nacht hinein: «Midori, mach dich bereit! Bald werden wir sehen!» Leise drehte er sich wieder zu Elnara hin. «Jetzt», flüsterte er ihr entschlossen zu. Wie aus dem Nichts sprudelten Flammen aus den Händen der hübschen Priesterin. Ihre Gesichtszüge wirkten angespannt und konzentriert. Keine Sekunde später loderte ein grosses Feuer in der Mitte des Marktplatzes auf und Jack konnte endlich wieder etwas sehen. Doch er hatte nicht lange Zeit die Szene zu verinnerlichen. Denn nun konnten auch die Bogenschützen genau sehen, wo sich die Rebellen versteckten. Und es waren viel mehr gewesen, als Jack gedacht hatte. Alvaro hatte bereits jetzt nicht an Gewalt gespart. Midori aber hatte Jacks Nachricht verstanden und war mit gespanntem Bogen bereitgestanden. Sobald sie in der Nacht etwas erkennen konnte, schoss sie bereits den ersten Pfeil ab. Die Söldner hatten sich rund um den kompletten Marktplatz verstreut. Viele sassen auf den schneebedeckten Dächern der Häuser und nahmen die rebellierenden Bürger unter Beschuss. Nun, da auch sie genau sehen konnten, wo sich die Aufständischen versteckten, konnten sie präzise ihre Pfeile abfeuern. Aber Midoris Pfeil traf einen Mann mitten in die Brust. Mit einem Schrei, fiel er schwer vom Dach in den Schnee. Einige Bürger hatten sich mit schweren Steinen bewaffnet und warfen sie nach den Schützen. Doch Jack erkannte schnell, dass die Söldner immer noch im Vorteil waren. Reglos kauerte er an der Barrikade und konnte nicht fassen, was er da miterlebte. Beinahe jeder Pfeil der Schützen traf nun einen Aufständischen tödlich. Der Schnee auf dem Marktplatz war bereits nicht mehr weiss, sondern blutig verfärbt. Alles was Jack noch sah, war wie die Bürger hilflos Schutz suchten und wie ihre Gliedmassen von tödlichen Pfeilen durchbohrt wurden. Es war ein Massaker. Midori gab ihr bestes, die Söldner auszuschalten, doch oft musste sie sich ducken, um selbst nicht getroffen zu werden. Die Nacht wurde zerrissen von schmerzhaften Schreien, ängstlichen Tränen und wütenden Stimmen. «Jack!», brüllte Ryan plötzlich und hechtete mit einem Holzbrett auf seinen Freund. Eine Pfeilspitze drang scharf durch das nasse Holz, doch nicht weit genug, um die Rebellen zu verletzen. Jack war sprachlos, seine Augen weit aufgerissen und seine Glieder eingefroren. Er war wie paralysiert. All das Blut. All die Schreie. All der Tod. «Lösch das Feuer!», rief Ryan schliesslich Elnara zu, als er bemerkte, dass Jack komplett unter Schock lag. Die Priesterin des Feuers breitete ihre Arme aus und, wieder mit einem stark konzentrierten Gesichtsausdruck, sog das Feuer sprichwörtlich in sich auf. Sobald sich die Dunkelheit wieder auf den Platz legte, kehrte auch die unsichere Stille zurück. Die Aufregung hatte sich gelegt, alles was noch von dem Angriff zeugte, waren die laut pochenden Herzen der Überlebenden und die letzten, schnappenden Atemzüge der Sterbenden. «Jack, reiss dich zusammen! Jeder einzelne hier braucht dich. Du weisst, wie man die Leute in eine Schlacht führt. Sie brauchen einen Anführer. Jeder hier braucht einen Anführer, selbst ich. Jack!», Ryan rüttelte seinen Freund heftig bei den Schultern. «Wenn du ihnen nicht Mut gibst jetzt, dann werden sie ihn komplett verlieren und der ganze Aufstand wäre umsonst gewesen! Wir können das nicht passieren lassen.» Jack schwieg in die angespannte Stille hinein. «All diese Leute wären umsonst gestorben, Jack!», rief Ryan aus und suchte nach den unverkennbaren roten Augen. Und tatsächlich fand er sie im Düsteren. Ryan drehte sich verwundert um. Der Horizont war in Schattierungen von Grau getaucht. Die Sonne näherte sich jede Sekunde den Häusern, doch ihre hellen Strahlen zeigten schon jetzt Auswirkungen. Mehr und Mehr begann man Silhouetten und Abrisse zu erkennen. Jacks Gesicht war immer noch wie gefroren. Ein Ausdruck von Schock lag auf seinen Augen. «Jack!», Ryan rüttelte wiederum an seinem Gegenüber, um ihn aus seiner Trance zu wecken. Jack blickte seinen Freund fassungslos an. «Lass all diese mutigen Kämpfer nicht umsonst gestorben sein», flüsterte Ryan als er sich auf dem Marktplatz, der nunmehr einem Schlachtfeld glich, umschaute. Tote und halbtote Körper lagen auf ihrem eigenen Blut im Schnee verstreut. Pfeile, die ganze Gliedmassen durchbohrt hatten. Gesichter, die im Schmerz eingefroren waren. Und Gesichter, die nun, da die Sonne Klarheit schuf, ängstlich und traurig um sich blickten. Jack spürte auf einmal, wie all diese Augenpaare auf ihn gerichtet waren. Erwartungsvoll. Sogar hoffnungsvoll. Ein lauter Lärm riss plötzlich alle aus ihren Gedanken. Die Barrikade wurde angegriffen. Und nur wenige Momente danach stürmten schwer bewaffnete Söldner auf den Marktplatz. Jack griff instinktiv, ohne zu überlegen nach dem Schwert in seinen Gürtel. Für einen kurzen Augenblick hielt er inne und betrachtete die Waffe in seinen behandschuhten Fingern. «Für eine gerechte Welt!», brüllte er mit all seiner Kraft und Überzeugung und stürmte auf die Angreifer los. Das Volk, urplötzlich motiviert von Jacks Ruf, griff ebenfalls nach seinen Waffen und attackierte die Eindringlinge. Während sich Midori und einige andere Bürger weiterhin um die Bogenschützen kümmerten, hatten sich die restlichen Rebellen in die Schlacht gewagt. Die Söldner waren in der Überzahl. Doch jeder einzelne Kämpfer gab sein Bestes. Besonders Finns Männer waren eine grosse Hilfe. Draven hielt Hazel in seinem Rücken, damit sie in Schutz war vor den scharfen Klingen. Mit wütenden Augen, wehrte er jeden Schlag der Söldner ab. Finn und Flo kämpften Seite an Seite. Sie wirkten wie ein eingespieltes Team und überlisteten die Gegner gemeinsam. Rouven, der noch keines Falls ausgenüchtert war, torkelte durch den Schnee. Doch jeden Angriff spürte er förmlich kommen und wehrte ihn mit Leichtigkeit ab. Ein Lächeln zeichnete sich auf seinen Lippen ab sobald er sein Schwert genüsslich durch die kalte Luft schwang. Hinter Ryan, der ebenfalls mit ausweichen und kontern beschäftigt war, stieg die Sonne langsam über die Dächer der schneebedeckten Häuser. Ein helles, warmes Rot verzauberte die Stadt. Doch Jack blieb nicht lange Zeit, den Sonnenaufgang zu bewundern. Zwei Söldner preschten zornig auf ihn zu. Mit viel Kraft musste er den ersten Hieb abwehren. Das Schwert des Gegners glitt an seiner Klinge hinunter. Dem zweiten Schlag wich er in letzter Sekunde aus. Jack konnte seine Finger nicht mehr fühlen, doch er durfte sein Schwert nicht fallen lassen. Mit all seiner Kraft umklammerte er den Griff und hob zu einem Schlag aus. Mühevoll konnte er gegen die beiden Söldner ankommen. Die Kälte zerrte an all seinen Gliedern, doch die Sonne warf ihre wärmenden Strahlen auf die durchfrorenen Rebellen. Auch mit der Müdigkeit und dem Hunger musste er kämpfen. Doch sein Wille war stark. Er blendete die Leichen auf dem verfärbten Schnee aus und konzentrierte sich nur noch auf seine Feinde. Immer wieder warf er einen entschlossenen Blick auf die in der Stille liegende Burg. Heute ist dein Ende, Alvaro, dacht sich Jack und hob zum entscheidenden Schlag aus. Er wusste, dass sobald Cleos Katapult Einsatz bereit wäre, sie die Burg mit Leichtigkeit einnehmen würden. Doch Cleo eilte hektisch durch scharfe Klingen und spitze Pfeile. Das Katapult schien immer noch nicht komplett. Jack kämpfte sich durch bis zu seiner Freundin. Cleos Gesicht und Kleidung waren schmutzig und nass. «Wie lange brauchst du denn noch?», hackte Jack nach und wich einem Schwert aus. Cleo griff im Schnee nach einem Werkzeug, das sie hatte fallen lassen und pustete sich eine Strähne ihres orangen Haares aus dem Gesicht. «Nur noch eine kleine Winzigkeit», meinte sie und rannte davon, um diese Winzigkeit zu besorgen. Jack konnte nur hoffen, dass die Rebellen lange genug Stand hielten, bis Cleos Katapult endlich einsatzbereit war. Midori eilte nun ebenfalls zu Jack und dem Katapult in die Mitte des Marktplatzes. Sie schoss zielsicher einen Pfeil ab, der einen Söldner zu Fall brachte. «Ist Cleo denn schon fertig?», erkundigte auch sie sich ausser Atem. Jack schüttelte mit wachsamen Augen den Kopf. «Nur noch eine Winzigkeit», berichtete er ihr und wehrte einen weiteren Schlag ab. Midori seufzte genervt. Sie stellte eine grosse Flasche, die sie sich am Gurt festgebunden hatte, in den Schnee. «Das ist die Mischung, die Cleo braucht. Der Inhalt reicht für etwa fünf Schüsse. Das Ganze ist hochexplosiv also seit vorsichtig damit!», warnte Midori und holte einen Pfeil aus dem Köcher auf ihrem Rücken. Plötzlich riss sie überrascht die Augen auf. Jack folgte ihrem Blick und erkannte einen grossen Flecken direkt vor der Sonne. Midori jubelte, als hätten sie die Schlacht bereits gewonnen. Nun erkannte auch Jack, den kräftigen Flügelschlag von Pandora am Himmel. Er konnte sich vor Freude nicht halten und fiel Midori um den Hals, die überrascht lachte. Pandora war genau das Zünglein an der Waage, das die Rebellen brauchten, um Alvaro ein für alle Mal zu besiegen. Jack erschrak, als Midori ihn plötzlich unter einem Schreckensschrei zur Seite stiess und den Bogen zum Schuss spannte. Doch ihr Pfeil traf den versteckten Schützen, der die Ruhe der Situation ausgenutzt hatte, zu spät. Denn sein Schuss war schneller gewesen, Jack sah den Pfeil an sich vorbei rauschen. Mit voller Wucht traf er Finn, der seinen Tod nicht kommen sah, in den Rücken. Kraftvoll durchbohrte er seine schwarze Lederrüstung. Jack brüllte verzweifelt und wollte schnellstens zu seinem Bruder hineilen. Doch die Söldner hatten den Kampf wieder aufgenommen und die kurze Phase der Ruhe, die Pandora herbeigezaubert hatte, war verflogen. Mit Tränen in den Augen schlug Jack brachial auf seine Gegner ein, doch er konnte sich nicht bis zu Finn durchschlagen. Zwischen Schnee, Schmutz und Russ konnte er sehen, wie sein Bruder kraftlos in Flos Armen lag. Verzweifelt versuchte sie das Blut mit ihren blossen Händen aufzuhalten. Doch es lief ihr über die Arme und die weisse Bluse. Finns Gesicht wirkte völlig regungslos und blass. Jack konnte sehen, wie Flo sich mit den blutverschmierten Händen die Tränen von den Wangen wischte. Aber er konnte sich nicht weiter auf seinen Bruder konzentrieren, verbittert stürmte er auf die Söldner zu. Er war so in seine Wut vertieft, dass er gar nicht bemerkte, wie Pandora im Schnee landete und mit ihrem kräftigen Schwanz die Männer des Königs aus dem Weg schlug. Erst als er Midoris Hand auf seiner Schulter spürte, kam er aus seiner Rage wieder raus. «Schau doch nur», meinte sie leise und zeigte mit ihrem Bogen auf den Weg, der zur Burg hoch führte. Erst jetzt erkannte Jack, dass sich die Söldner in Eile zurückzogen. Anscheinend wurde ihnen nicht genug gezahlt, um gegen einen ausgewachsenen Drachen zu kämpfen. Doch sie waren immer noch kämpferisch, denn von der Burg aus flogen immer noch Pfeile auf den Marktplatz. Doch die Rebellen konnten nun endlich einen Moment durchatmen. Nass, schmutzig und blutverschmiert standen sie schwer atmend im Schnee. Völlig erschöpft und niedergeschlagen aber immer noch fest entschlossen. Doch sie mussten wiederum Schutz suchen vor den tödlichen Pfeilen. Alle, die noch übrig waren, pressten sich gegen die spärlichen Überreste ihrer Barrikade. Jack versuchte seine Gedanken zu ordnen. Sie mussten dringend diese Bogenschützen beseitigen, sonst würde ihnen der Sturm auf die Burg nie gelingen. Jack liess seine wachen, roten Augen über das Schlachtfeld schweifen. Kurz blieben sie an Flo und Finn kleben. Florence hatte Jacks Bruder an die Barrikaden herangezogen. Jack konnte sehen, wie Finn schwach seine Hand hob, doch es war nicht mehr viel Leben in seinem Gesicht zu erkennen. Die restlichen von Finns Männern, ebenfalls in schwarzen Rüstungen, hatten sich zu dem Paar gesellt und bauten eine Deckung aus ihren Metallschildern. Gegen seine Emotionen kämpfend, presste Jack kurz seine Augen zu. Er musste einen klaren Kopf bewahren, Ryan hatte es im klargemacht. Diese Leute hier brauchten einen Anführer in der Schlacht. Jacks Augen erhellten sich, als sein Blick auf das Katapult fiel. Suchend schaute er sich nach Cleo um. Er fand sie, zusammengekauert in einer Ecke. In ihrer Hand fest umklammert hielt sie ein Werkzeug. Ihm war sofort klar, dass Cleo noch nicht dazu gekommen war, ihre Winzigkeit zu erledigen. Jack konnte sehen, wie Midoris Flasche noch bei dem Katapult lag und auf seinen Einsatz wartete. «Jack!», Ryan eilte geduckt zu dem Anführer hin. «Ich werde mit Pandora zur Burg fliegen, um Liv da raus zu holen. Der Drache wartet bereits auf mich», erklärte Ryan ausser Atem und blickte zu Pandora hin, die mitten auf dem Marktplatz stand und die beiden beobachtete. Die Pfeile konnten dem Drachen nichts anhaben. Sobald sie auf die dicke Haut trafen, zersplitterten sie in tausend Teile. Jack wusste, wie wichtig es Ryan war, Liv aus der Situation zu befreien, in die er sie hineingebracht hatte. Wenn sie ihm schon nicht verzeihen würde, dann würde er sie zumindest retten. Jack erkannte in Ryans blauen Augen seine aufrichtige Entschlossenheit und nickte einverstanden. «Und wenn du schon auf der Burg bist, schau, ob du auch Destina noch helfen kannst», meinte Jack und hielt seinem alten Freund die Hand hin. Ryan bedankte sich für Jacks Verständnis und schlug ein. «Wir sehen uns bald wieder», rief Jack Ryan hinterher, der eilend im Zick Zack über den Platz rannte. Er kletterte auf Pandoras grossen Rücken und kurz darauf hob der Drache mächtig von Boden ab. Schnell flogen sie durch den grauen Winterhimmel zu der Burg hin. Jack wusste, dass Ryan heil mit Liv wiederkehren würde. Etwas anderes würde Ryan gar nicht zulassen. Jack war nun umso entschlossener, endlich die Mauern dieser verhassten Burg einzureissen. Er trommelte seine Leute zusammen, um eine lang ausstehende Ansprache zu halten. «Hört mir alle gut zu!», rief er und spürte wie sofort alle Augen erwartungsvoll auf ihn gerichtet waren. «Wir werden alle gemeinsam aus der Deckung hervortreten, damit die Bogenschützen beschäftigt sind. Währenddessen kann Cleo das Katapult fertigstellen und laden, der erste Schuss wird die Söldner ausser Gefecht setzen und der zweite wird die Mauern der Burg zum Einsturz bringen! Sobald die Mauern gefallen sind, stürmen wir die Burg! Wir werden den König endlich von seinem Thron werfen und die wahre Königin daraufsetzen! Das Ziel ist zum Greifen nahe, wenn wir alle nun gemeinsam kämpfen und stark und mutig dem Gegner in die Augen blicken, werden wir siegen!», rief Jack zuversichtlich und die Menge fasste neuen Mut in seinen Worten. Das Klirren von Waffen und Ertönen von entschlossenen Schreien wärmte Jack das Herz. Er war sich sicher, nun würde diese Stadt endlich ihren Frieden finden. Nur Cleo schüttelte mit Tränen in den Augen den Kopf. «Nie wieder will ich so ein Gemetzel mitansehen müssen!», flüsterte sie bitter. «Heute wird niemand mehr sein Leben unnötigerweise aufs Spiel setzten», meinte sie und rannte entschlossen los. Jack rief ihr hinterher, doch nichts hielt sie von ihrem Entschluss mehr ab. Sofort war auch Midori und die anderen Rebellen aus der Deckung getreten, um der Tüftlerin Deckung zu geben. Doch Cleo war schon zu weit entfernt. Die Pfeile verfehlten sie nur knapp. Unbeirrt eilte sie durch ein Gemisch aus Schnee, Blut und Schmutz. Endlich hatte sie das Katapult erreicht und begann sich am Silber zu schaffen zu machen. Jack rannte so schnell er konnte zu ihr hin, um sie unter einem Brett, das er in der Hand trug in Deckung zu nehmen vor den hinunterregnenden Pfeilen. Doch er war nicht schnell genug. Direkt vor seinen Augen musste er mitansehen, wie eine Pfeilspitze Cleos zarte Brust durchbohrte. Sie schnappte hektisch nach Luft. Das Werkzeug glitt ihr aus der Hand und mit grossen, flimmernden Augen betrachtete sie den Pfeil, der sie mitten ins Herz getroffen hatte. Jack kam gerade noch rechtzeitig, um Cleo aufzufangen, bevor sie ohnmächtig zu Boden fiel. Doch als er sie sterbend in seinen Armen hielt, lächelte sie ihn glücklich an. «Du wirst den König zu Fall bringen», sprach sie schwach, bevor sie das letzte Mal schnappend nach Luft suchte. Ihre Arme fielen schlapp in den kalten Schnee. Aber Jack blieb nicht lange, um um seine langjährige Freundin zu trauern. Ein Pfeil traf nun auch ihn in den Oberschenkel. Schmerzhaft brüllte er auf und fasste sich an die Wunde. Er stiess einen lautstarken Fluch aus. «Jack! Du musst das Katapult befüllen!», rief Midori ihm zu und feuerte einen weiteren tödlichen Schuss ab. «Schnell!» Jack biss die Zähne zusammen, band sich die Wunde am Bein eilig mit einem Stück Stoff ab, um die Blutung zu stoppen, und humpelte mühsam zu Cleos Meisterwerk hin. Hastig griff er nach Midoris Flasche und füllte die Flüssigkeit in die mit Silber ausgekleidete Schale des Katapults. Kraftvoll betätigte er nun den Auslöser und das Katapult feuerte Midoris Gift exakt auf den Eingang der Burg. Eine riesige Explosion blendete die Aufständischen auf dem Marktplatz. Oder auf dem Platz, der nunmehr einer Kriegsszene glich als einem friedlichen Ort. Das komplette Gelände war so chaotisch zerstört, dass die Ruinen der Tempel überhaupt nicht mehr auffielen. Die Stichflamme des Feuers hatte sich wieder beruhigt und nun konnte man die Zerstörung erkennen, die der Angriff verursacht hatte. Die Söldner lagen leblos am Boden und kein Pfeil flog mehr durch die kalte Luft. Schnell befüllte und feuerte Jack das Katapult ein zweites Mal. Eine erneute Explosion liess die Rebellen zusammenzucken. Aber nun erkannten sie, dass die Mauern tatsächlich ein kleines Loch aufwiesen. Instabil purzelten vereinzelt Steine auf den Boden, bis die Mauer endgültig in sich zusammensackte. Die letzten Verbleibenden auf dem Marktplatz verfielen in tosendem Jubel. Euphorisch und mit den letzten Kräften stürmten sie alle gemeinsam lauthals auf die geschwächte Burg zu.

Die Reise des DrachenmädchensWhere stories live. Discover now