32. Eine Brise der Veränderung

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Mit einem Lächeln im Gesicht streckte sich Liv schläfrig in dem grossen Bett aus, liess sich von den sanften Sonnenstrahlen aufwärmen und wach küssen. Sie fühlte sich leicht und unbeschwert. Nur langsam gewöhnten sich ihre Augen an das grelle Licht. Ein Kloss blieb ihr im Hals stecken, als sie plötzlich bemerkte, dass sie nicht mehr in ihrem Zelt lag. Hektisch blickte sie sich um. Sie war in einem kleinen Raum mit hölzernen Wänden und Böden. Durch ein kleines, schmutziges Fenster drang die fahle Herbstsonne in den Raum. Liv eilte aus dem grossen, weichen Bett hinaus und bemerkte erst jetzt, dass sie komplett nackt war. Sie fluchte leise und blickte sich um, doch sie konnte ihre Kleider nirgends entdecken. Der Raum war leer. Ein riesiges Bett, ein kleines Nachttischchen mit einer fast hinunter gebrannten Kerze und eine grosse Truhe in der Ecke des Raumes. Einen Moment lang erinnerte sich Liv an ihr altes Zimmer in ihrer Welt. Ein Lächeln huschte schüchtern über ihr Gesicht. Sie war unbeschreiblich froh darüber, dass sie den Mut gefunden hatte nach all den Jahren wieder in diese Welt zurückzukehren. Sie hatte in so kurzer Zeit so viel erlebt, wie sie es in der Schule nicht in 10 Jahren getan hätte. Ihre Brust füllte sich mit Stolz. Sie hatte viel Mutiges getan, was sie sich nie zugetraut hätte. Noch kam in ihr nicht das kleinste Bisschen Heimweh auf. Sie war nur froh, hier ein Abenteuer zu erleben. Ein dumpfes Poltern riss sie aus ihren träumerischen Gedanken und ihre Naivität wurde ihr auf einen Schlag bewusst. Hastig stürzte sie sich auf den Nachttisch und riss alle Schubladen auf. Auf der Suche nach irgendetwas. Kleider, Waffen oder irgendwelche Hinweise darüber, was überhaupt geschehen war. Fluchend schmetterte sie die leeren Schubladen wieder zu. War sie etwa entführt worden? Oder hatten die Rebellen in ein anderes Zimmer gebracht? Sie versuchte sich an irgendetwas zu erinnern, doch ihr Kopf pochte schmerzend. Mit gerunzelter Stirn griff sie sich an den Schädel. Was war bloss nach der Nacht mit Ryan geschehen? Sie rieb sich die Schläfen um den Schmerz zu vertreiben. Vielleicht hatte das alles ja gar nichts Schlimmes zu bedeuten, versuchte sie sich einzureden. Bestimmt lief alles nach Plan. Ryan brachte Neuigkeiten von Jack. Die Rebellen mussten wohl entschieden haben, etwas zu unternehmen. Plötzlich fiel ihr Blick wieder auf das kleine Fenster. Natürlich. Sie stürzte sich darauf und versuchte etwas zwischen den dicken Nebelschwaden erkennen zu können. Auf einmal begann das Zimmer leicht zu schwanken. Liv stützte sich an der Wand. Ein Schauder lief ihr über den Rücken. So sehr sie sich davon überzeugen wollte, dass nichts Schlimmes geschehen war, ihr Gefühl sagte etwas anderes. Tiefe Männerstimmen drangen an ihre Ohren. Zwischen Taumeln und Lauschen griff sie sich an ihren pochenden Kopf. Es fiel ihr schwer, sich richtig zu konzentrieren. Sie versuchte sich aus allem eine Geschichte zu reimen. Sie war auf einem Schiff. Das bedeutete, sie verliess die Insel der Wölfe höchstwahrscheinlich in die Richtung der Stadt, wo Jack auf sie warten würde. Ryan hatte die Rebellen zusammengetrommelt und nun fuhren sie in die Stadt um Jack zu helfen. Das hatte er doch gestern erzählt. Sie presste ihre Hand gegen die schmerzende Stirn. Sie konnte sich einfach nicht erinnern. Wie sehr wünschte sie sich, dass Pandora jetzt bei ihr wäre. Doch auch vom Drachen gab es keine Spur. Plötzlich hörte sie ein lautes Heulen in der Ferne. Erschrocken presste sie ihren Kopf gegen die Scheibe und blickte in den Nebel hinaus. Es war eindeutig das Heulen eines Wolfes. Liv hielt den Atem an. Das Heulen wurde stärker, als mehr Wölfe dazukamen. Es klang so herzzerreissend und sehnsüchtig, dass es Liv beinahe zu Tränen bewegte. Sie presste ihre Augen zusammen. Es war mittlerweile bestimmt ein ganzes Rudel, das lauthals sein Leid ausdrückte. Es konnte doch nur Alices Rudel sein, doch warum heulten die Wölfe denn bloss? Es klang viel zu traurig, als dass es vor Freude über Alices Rückkehr sein konnte. Warum auch immer, Liv wusste instinktiv, dass es nichts Gutes bedeutete.
Plötzlich wurde die Tür geöffnet und Livs Herz blieb für einen kurzen Moment stehen. Doch der Schreck war von kurzer Dauer, denn sie blickte in ein vertrautes Gesicht. „Ryan! Du schuldest mir eine Erklärung! Was ist passiert? Warum sind wir auf einem Schiff?", meinte sie wütend und doch froh, dass sie nicht entführt worden war oder schlimmeres. Ryan reichte Liv verlegen ihre Kleider. „Ich habe sie für dich gewaschen", meinte er mit einem kurzen Lächeln und kämpfte mit sich, ihren wundervollen Körper nicht zu berühren. Mit einem eisernen Blick riss Liv ihre Kleider an sich und zog sich schnell an. „Also, was für eine Erklärung hast du für das hier?", fragte sie nach, verschränkte ihre Arme störrisch und stellte sich fordernd vor Ryan hin. Die Brust voller Stolz und Mut, doch ihr Herz sanft mit Zuneigung gefüllt. „Du weisst wieso; Jack wollte es so. Er wollte, dass ich alle wieder auf das Festland bringe und das tue ich jetzt." Er wandte den Blick von ihrem vor Wut errötetem Gesicht ab und betrachtete den Boden für einen Moment. Er wollte nicht, dass Liv sein schuldbewusstes Gesicht sah. Er musste es vor ihr verbergen. Doch Liv hätte auch so nichts bemerkt, geblendet von der Liebe für seine blauen Augen. „Hör zu Liv, wir sind bald da und dann kommt alles gut, ich verspreche es dir, ja?" Er schaute ihr tief in die Augen, berührte sanft ihre weichen Schultern und gab ihr ein Gefühl von Geborgenheit. Ihr Körper entspannte sich schlagartig durch Ryans Berührung. Sie schmolz in seine starken Arme. Er berührte zärtlich ihr Kinn und küsste sie voller Liebe und Leidenschaft. Sie strahlte ihn verliebt an. In seinen Armen wusste sie, dass sie nicht viel brauchte zum Glück. Seine Augen und seine Berührungen reichten vollkommen aus. Sie hatte schon immer eine Schwäche für Männer mit blauen Augen gehabt. Sie presste Ryan an ihren Körper und in ihrem Kopf gab es keinen Zweifel mehr daran, dass alles gut werden würde. Genau so wie er es gesagt hatte. Sie wusste es. Sie wusste es ganz genau. „Bitte tu mir nur einen Gefallen", flüsterte Ryan mit plötzlich ernster Miene, „bleib in diesem Zimmer, bis wir den Hafen erreicht haben. Ich will das Risiko nicht eingehen, dass dich jemand sieht. Wir wissen nicht, wie viel das Königshaus tatsächlich weiss über den Mörder des Königs, aber deine Haare sind leider sehr auffällig." Mit einem Lächeln nahm Ryan eine Strähne ihres lilafarbenen Haares zwischen die Finger und betrachtete wie es langsam aus seiner Hand glitt. Liv nickte. „Versprochen", antwortete sie ihm und küsste ihn zart auf seine weichen Lippen. „Ich muss jetzt wieder raus, die Männer warten", meinte er kurz und verschwand ohne weitere Worte aus dem Zimmer. Er liess Liv alleine aber unbeschreiblich glücklich zurück. Sie sank lächelnd auf das Bett und konnte ihre Freude nicht fassen. Nicht nur Ryans Zärtlichkeiten, sondern auch die Gewissheit Jack wiederzusehen, liessen sie höher schweben als sie es gedacht hätte.
Frische, salzige Luft schlug Ryan ins Gesicht, als er wieder auf dem Deck des kleinen Schiffes war. Er rieb sich kurz die Augen, um wieder klar denken zu können. So sehr er Liv auch liebte, die Wahrheit konnte er ihr nicht verraten. Sie würde es nicht verstehen, zu gross war ihr Vertrauen in Jack noch. Er betrachtete die Gesichter der Männer auf dem Schiff. Alle waren entschlossen, hielten es für das Richtige. Sie töteten sogar für ihre festen Überzeugungen. Ryan liess seinen Blick schweifen, beobachtete die Männer, wie sie mit schmutzigen Lumpen das Blut ihrer Feinde von ihren Schwertern putzten. Denn wer sich ihrem Plan in den Weg stellte, dem konnte man keine Gnade erweisen. Das schmerzhafte Heulen der Wölfe liessen sie hinter sich. Den Blick nach vorne gerichtet. Den Blick in eine Zukunft. In eine bessere Welt, als die jetzige. Dafür kämpften sie. Keine Kriege mehr, keine Intrigen und Verrate. Keine Kompromisse mehr, sondern eine endgültige Lösung. Ein Mann, der die Stadt in eine bessere Zeit führen würde. Und dieser Mann war nicht Jack. Entschlossen fixierte sich Ryans Blick auf die königliche Burg. Bald wäre Alvaro an der Macht und mit ihm würde sich endlich alles ändern. Endlich. Ryan lächelte zufrieden. Er würde dafür sorgen, dass alles gut werden würde. So wie er es Liv versprochen hatte. Er wusste, dass er das Richtige tat. Wie Jack es ihm beigebracht hatte: Kämpfe für das, an das du glaubst. Egal was du glaubst, kämpfe dafür!

Die Reise des DrachenmädchensWo Geschichten leben. Entdecke jetzt