37. Gerechtigkeit...?

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Wie betäubt liess sich Liv von den Rittern hinab in die Gefängniszellen ziehen. Verwirrung, Enttäuschung, Wut, aber immer noch ein Stückchen Liebe und Hoffnung waren in ihrem Geist zu finden. Nie im Leben hatte sie gedacht, dass Ryan und so viele andere Jack und die Rebellion verraten und mit diesem Widerling gemeinsame Sache machen würden. Sie wusste, sie sollte wütend und enttäuscht sein, und das war sie auch, aber da war immer noch dieses Glücksgefühl, dass Ryan in ihr auslöste. Dieses Lächeln, das sich auf ihre Lippen schlich, wenn sie an ihn dachte. Und trotzdem hatte er diesen Schritt getan und Jack und die ganze Rebellion, sogar Liv selbst verraten. Naja, so ganz richtig war das auch nicht. Immerhin stand mehr als die Hälfte der Rebellen hinter Ryan und hatten ihn bei seinem Vorhaben unterstützt. Liv wusste nicht, was sie glauben oder denken sollte. Ihre Gedanken machten Reisen, doch fanden nirgends Antworten. Warum? Liv runzelte die Stirn, ihr Kopf begann zu schmerzen. So sehr sie auch versuchte irgendwelche Gründe zu finden und zu verstehen, sie kam auf keinen grünen Zweig. Ihr fehlten so viele Informationen. Ihr Gehirn schien voller Lücken und Löcher zu sein. Was war bloss alles in der Stadt geschehen, während sie auf der Insel auf die Rückkehr ihrer Freunde gehofft und gewartet hatte. Auch wenn es ihr gar nicht wie eine lange Zeit vorkam, in der sie getrennt war von Jack und Ryan, waren so viele Dinge geschehen, von denen Liv überhaupt nichts mitbekommen hatte. Sie ahnte nicht einmal, was für Tragödien über die Truppe in der Stadt gekommen waren. So viele Tote, verlorene Freunde, die man nie wiedersehen würde, und so viel Trauer und schlechte Stimmung. Streit zwischen besten Freunden und die Ankunft schlechter Nachrichten erschwerten Jacks Gedanken und Pläne. Doch von alledem wusste Liv nichts. Sie lebte noch in einer heilen Welt, doch das würde sich schon bald ändern...
Die Ritter brachten sie durch dunkle, kalte Gänge und an schmutzigen Gesichtern hinter Gittern vorbei in die hintersten Winkel des Verlieses. Mit einem lauten Knarren wurde die Gittertür einer Zelle geöffnet und Liv grob hineingestossen. Sie stolperte über den Abfall und die losen Steine am Boden und fiel auf die Knie. Schmerzend betrachtete sie ihre nackten Knie, die den Sturz abgefangen hatten. Aus kleinen Kratzern quoll rotes Blut hervor. Liv, völlig in Gedanken versunken und auf ihr Knie starrend, bemerkte gar nicht, dass sie nicht alleine in dieser Zelle eingesperrt war. Auf der anderen Seite des kleinen, schäbigen Raumes sass eine Frau, überzogen mit Schmutz und ausgehungert wie ein Strassenköter. Sie beobachtete ihren Besuch mit aufmerksamen, blauen Augen. Das Licht der Kerzen im Gang liess sie nicht viel des Neuankömmlings erkennen. Doch dann fiel ihr Blick auf die langen Locken des Mädchens. Eine Farbe, wie sie die Gefangene nur einmal in ihrem ganzen Leben gesehen hatte. Die Frau riss ihre blauen Augen auf und kroch schnell auf Liv zu, die erschrocken zusammenzuckte und sich auf die andere Seite des Kerkers flüchtete. Doch die blonde Gefangene liess nicht von Liv ab und folgte ihr flink. «Wer hätte gedacht, dass unser Wiedersehen so ausfallen würde?», sprach sie mit einer zarten Stimme, während sie Liv immer näherkam. Liv musterte ihr Gegenüber. Die Stimme kannte sie, die Augen und das blonde Haar, das unter dem Schmutz hervorschimmerte. «Warum bist du hier gefangen?», wollte Liv verwirrt wissen, als sie die Köchin wiedererkannte. Romina kniete sich vor Liv hin und musterte ihr sauberes, schönes Gesicht. Sie räusperte sich. «Weisst du, das ist eine ziemlich lange Geschichte...», versuchte sie sich aus der Angelegenheit zu reden. Doch Liv erkannte ihre Chance, endlich zu erfahren, was in der ganzen Zeit, in der sie auf der Insel feststeckte, in der Stadt geschehen war. Entschlossenheit leuchtete aus ihren grünen Augen und Liv richtete sich langsam auf. «So wie ich das sehen, werden wir hier noch ziemlich lange gemeinsam sitzen, an Zeit mangelt es uns also sicherlich nicht.» Romina kauerte sich zusammen. Bilder blitzten in ihrem Kopf auf, während sie die Wand hinter Liv anstarrte und Augenkontakt vermied. Bilder von Verrat, Tod und Hass. Ängstlich kniff Romina die Augen zu und vergrub ihren Kopf zwischen ihren dünnen Armen. «Nein, nein, nein», flüsterte sie zu sich selbst. Doch Liv liess nicht locker, sie musste einfach erfahren, was sich in der Stadt abgespielt hatte, sonst würde sie nie auf Antworten stossen können. Sie kniete sich vor Romina hin und rüttelte an ihren Armen. «Erzähl mir was passiert ist! », schrie sie die zierliche Köchin an. Doch Romina verkrampfte sich und schüttelte nur den Kopf. «Ich kann nicht. Nein, nein, nein», murmelte sie weiter vor sich hin. Liv rüttelte noch einmal kräftig an den dünnen Schultern. «Erzähl mir, was passiert ist!», wiederholte sie sich lautstark. Romina schluchzte auf. Mit Tränen auf den Wangen
hob sie ihr Gesicht und starrte Liv schuldbewusst in die Augen. «Ich habe Jack verraten! », schrie Romina voller Verzweiflung in die Stille. Liv stockte der Atem. Langsam dämmerte ihr alles. Ihr Blick wanderte auf den Boden, während sie über Rominas Worte nachdachte. Romina vergrub ihren Kopf wieder in den Händen und schluchzte leise vor sich hin. «Erzähl mir alles. Jedes verdammte Detail und versuchst du mich nur ein einziges Mal anzulügen, wirst du es bereuen, glaub mir!», brach Liv das unerträgliche Geräusch des Weinens und beobachtete ihr Gegenüber mit entschlossenen Augen. Romina hob ihren Kopf langsam, ihre Augen waren rot und ihre Wangen nass. Sie suchte in Livs Augen nach Mitgefühl und Verständnis, doch sie stiess nur auf Kälte. Romina tat einige zitternde Atemzüge, um sich ein wenig zu beruhigen und berichtete schliesslich alles, was sie wusste und was sie getan hatte. Nicht nur von dem Abend, an dem König Leonardo ermordet wurde, sondern auch davon, wie Alice und Midori nach Florence gesucht haben und dass Romina selbst Alvaro alles erzählt hatte, so dass er gewappnet war für einen Angriff und Jack und seine Leute so keine Chance hatten, diese Falle lebend zu verlassen. «Alvaro hat sie alle getötet», berichtete Romina mit schwacher, zitternder Stimme. Liv taumelte zurück, sie prallte gegen die Wand und ihre Beine waren zu schwach, um das Gewicht ihres Körpers zu tragen. Auf dem kalten Boden des Kerkers wurde ihr langsam bewusst, was für schreckliche Auswirkungen das Kämpfen für eine Sache haben konnte. Das Böse schien zu gewinnen, es schien stärker zu sein. Doch dann realisierte Liv, was das Böse genau war. Es war nicht dieser Alvaro, zumindest nicht in diesem Fall. Livs Blick fiel auf die blonde Köchin. Jacks Plan war perfekt gewesen, er hatte immer alles richtig gemacht. Der Fehler war Romina. Sie war schuld an alle dem! Schuld an dem Leid, das der Rebellion wiederfahren war, und an dem Tod, der über Jacks Gruppe gekommen war. Das Böse sass direkt vor ihren Augen. Livs Trauer wandelte sich schlagartig in Wut um. Ihre Tränen in den Augen verschwanden und sie begannen zu glühen. Langsam tastete ihre Hand nach einem Stein, der aus der alten Gefängniswand herausgefallen war. Er war nicht grösser als ihre Hand, doch er war hart und stabil. «Du hast sie umgebracht! Es ist alles deine Schuld! », schrie Liv, als sie auf Romina zustürmte und sie zu Boden riss. Wutentbrannt schlug Liv mit dem Stein auf die zierliche Frau unter sich ein. «Du hast Jack getötet! » Doch die dünne Romina war stärker als erwartet. Sie drückte Liv von sich runter und schlug ihr mit der Faust ins Gesicht. Sie selbst war schon voller Blut. Ihre blonden Haare hatten bereits allmählich eine andere Farbe angenommen. Liv erinnerte sich an das Training mit Alice und sammelte all ihre Kraft. Sie packte Romina an den Haaren und zog sie von sich runter. Kraftvoll schleuderte sie Romina gegen die harte Steinmauer. Die Köchin brach zusammen, ihr Gesicht war voller Blut. Blauem Blut. Liv griff wieder nach dem Stein, wischte sich das Blut von Rominas Schlag aus dem Gesicht und ging bedrohlich auf die Köchin zu. «Jetzt wirst du büssen für deine Verbrechen! », flüsterte sie der schwachen Romina zu. Liv hob den Stein über ihren Kopf und schlug mit voller Wucht auf Rominas schönes Gesicht ein. Einmal, zweimal, dreimal... Sie hörte nicht auf, nicht bis Rominas Gesicht nichts mehr war, als ein blauer Brei. Völlig kraftlos liess Liv den Stein auf den Boden fallen und lehnte sich neben der toten Romina gegen die Wand. Doch lange blieb diese Ruhe nicht bestehen. Einige Ritter, die auf die Schreie der Frauen aufmerksam geworden waren, eilten den Gang hinunter und das, was sie vorfanden, liess ihnen den Atem stocken. Und das nicht nur wegen der entstellten Leiche, sondern auch wegen der Farbe des Blutes. Rotes, menschliches Blut.

Die Reise des DrachenmädchensWhere stories live. Discover now