56. Perfekte Parallelwelt

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Junge, talentierte Frau... viel zu früh von uns gegangen... Drogenquelle unbekannt... Tesco... in Ohnmacht gefallen... älterer Mann in Begleitung... geflüchtet bevor der Notdienst ankam...

Mein Blick haftete starr auf dem Haufen Zeitungen, die sich im Müll am Ausgang der Mensa sammelten. Je mehr Schüler gingen, desto höher wurde der Stapel. Ich sah die verstörten Gesichter, die sie gelesen und dann entsorgt hatten. Einerseits wünschte ich ebenfalls den Artikel nie gelesen zu haben und andererseits musste ich dem Drang widerstehen, ihn zum hundertsten Mal zu lesen.

Es stand nicht wirklich viel zu ihrem Tod drin. Aber umso mehr über sie. Ich wusste nie, dass sie eine der besten Schauspielerinnen im Dramakurs war und die Hauptrolle in einem Theaterstück für unsere Abschlussfeier hatte. Andere Rollen, die ihr zugeteilt wurden, waren: Geliebte Tochter, fleißige Schülerin, kreative Seele. Anscheinend verlor sie plötzlich ihr Bewusstsein mitten im Tesco. Sie hatte wohl Kekse und Cola in der Hand, als sie zu Boden stürzte. Zeugen eilten zur Hilfe und bemerkten den älteren, vollbärtigen Mann mit Mütze und Sonnenbrille im britischen Winter — und wie er die Flucht ergriff, als er realisierte, was passierte. Lindas Herz stoppte, bevor der Notdienst sie erreichte. 

Warum genau, darauf gehen sie nicht ein. Wer das war, ob er gesucht wird, alles kein Thema. Nur eine Andeutung, dass sie etwas genommen hatte, was sie nicht vertrug. Eventuell unsaubere Ware. Vielleicht war es auch eine Überdosis.

Nach und nach verließen mehr Schüler die beendete Trauerzeremonie, die die Kingsbury High heute für Linda gehalten hatte. Es war Mittwoch. Gestern war die Beerdigung. Und auch die war kaum zu ertragen gewesen.

Ich hatte mich möglichst weit hinten in der Kirche versteckt, zwischen Leuten die ich nicht kannte, da ich überhaupt nicht verstand, warum ich eingeladen war. Es waren tatsächlich mehr Gäste anwesend als ich erwartet hatte. Die Erdbestattung habe ich auch nur aus der Ferne beobachtet.

Vermutlich hätte ich mich nicht so distanziert, wenn Julie mich gebraucht hätte. Aber sie stand da dicht bei Daniel und hat tapfer die Tränen unterdrückt, da er es nicht konnte. Verständlicherweise.

Elaine erging es genauso. Wir haben seitdem kurzen Moment im Auto kaum miteinander geredet. Das war jetzt vier Tage her. Auch damals haben wir nicht wirklich gesprochen. Hin und wieder trafen sich unsere Blicke... während der Beerdigung und jetzt auch wieder. Sie und Julie klebten aber an Daniel und das wollte ich respektieren.

„Hey, Kitty...", Luciens Stimme holte mich aus meinen verlorenen Gedanken. „Langsam macht es mich unwohl, was die hier alle quatschen. Ich höre üble Gerüchte."

Mit gerunzelter Stirn sah ich mich um. „Was für Gerüchte?"

„Über ihren Tod", flüsterte er und setzte sich zu mir auf die Bank mit seinem Kaffee, für den er sich gute zehn Minuten angestellt hatte. „Alle spekulieren, wer dieser Typ war... irgendein alter Sack, den sie für Drogen genagelt hat ist Vermutung Nummer 1."

Seufzend senkte er den Kopf. „Ich kannte sie nicht, aber sogar mich trifft diese Vorstellung."

Ich nickte leicht. „Ich finde es zwar gut, dass ihr Tagebuch geheimgehalten wird, aber ich denke auch, dass es einiges erklären könnte... Sie klang in den Einträgen teilweise echt nicht so als wäre sie ganz bei sich."

Lucien hatte ich davon am Tag vor der Beerdigung erzählt. Seitdem konnte ich etwas freier über Manon sprechen, ohne von ihm angeekelte Seitenblicke zu ernten. Jetzt wo er wusste, dass sie auch bi war, schien er sie allgemein besser leiden zu können. Aber der Gedanke, die Person zu verlieren, die man liebt oder zumindest geliebt hat genügte bei weitem, um für sie mitzufühlen.

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