57. Kleines Geheimnis

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„Huh?", Jules beugte sich überrascht vor und starrte mit zusammengekniffenen Augen auf die Straße. Es schneite. „Ist das Ellie?"

Ich folgte ihrem Blick und sah ein kleines dunkles Knäuel am Straßenrand. Langsam aber sicher wurde er von Schnee bedeckt und blendete in die weiße Umgebung.

Nach einem schnellen Blick in den Rückspiegel kam ich neben ihr zum Halt, falls sie es denn war. Ich ließ mein Fenster runter, um nachzufragen, doch da hob die Kreatur auch schon den Kopf und ein Äffchen mit roter Nase starrte mich an.

„Steig ein", war alles, was ich zu sagen brauchte und sie gehorchte. Fröstelnd sprang sie auf und stieg hinten ein.

Julie drehte sich verwundert zu ihr um. In wenigen Metern wären wir schon bei Daniel gewesen.

„Auf wen hast du gewartet?", war ihre erste Frage.

Elaine schwieg, doch Julie ließ sich nicht davon beirren und stellte gleich ihre nächste Frage. „Warum hast du nicht bei Daniel gewartet?"

Darauf antwortete sie dann doch. „Er musste zur Therapie. Habe ich dir doch gesagt."

Das verwirrte Jules nur noch mehr. Ich musterte Elaine aus dem Rückspiegel und bremste sanft, da wir schon da waren. Sie wich meinem Blick aus.

„Ja, aber das war doch vor 1,5 Stunden. Es ist dunkel, kalt und nass draußen. Hast du die ganze Zeit da gesessen?"

So langsam wurde ich auch neugierig. Elaine grummelte vor sich hin. „Ich wollte nicht nach Hause!", gab sie dann zu, sichtlich frustriert.

„Dann hättest du doch zu uns kommen können, statt dir draußen in der Kälte die Zeit zu vertreiben", mischte ich mich nun ein und stellte den Motor ab. Julie nickte zustimmend. Warum sie nicht nach Hause wollte, das versuchten wir nicht aus ihr herauszuholen.

Elaines Miene veränderte sich. Sie schwieg jedoch. Jules griff seufzend nach ihrer Handtasche und verabschiedete sich von uns. „Ich rufe entweder dich oder einfach direkt Mum an", sagte sie noch und stieg dann aus.

„Ist klar."

Sie ließ die Beifahrertür zufallen und stampfte davon. Ich drehte mich zu Elaine, welche mich bereits mit undefinierbarem Blick beäugte.

„Und?"

Ein wackeliges Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht. Es wirkte so, als würde sie versuchen es zu unterdrücken.

„Das letzte Mal als ich hier war habe ich zwanzig Minuten lang ohne Pause geheult", stellte sie dann fest.

Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte, außer: „Korrekt."

Das brachte sie zum Lachen. Es fühlte sich an als sei eine Ewigkeit vergangen, seitdem ich sie das letzte Mal lachen gehört hatte.

„Carter...", hob El dann an und beugte sich vor. Sie legte ihr Kinn auf meinem Sitz ab, direkt neben der Kopflehne. Als sie sprach kitzelte mir ihr warmer Atem das Ohr. „Ich brauche eine Pause."

Ich drehte mich vorsichtig weiter zu ihr und ging etwas auf Abstand, um ihr in die Augen sehen zu können. Diese flehten mich an.

„Wovon?", hakte ich nach. Mich beschlich das Gefühl, dass es hier um mehr als nur Linda ging.

Sie seufzte schwach. „Tagsüber bin ich bei Daniel. Und ich möchte auch für ihn da sein. Aber danach gehe ich nach Hause und dort wartet Louis schon auf mich. Er hat mir gebeichtet mit Linda auf ein paar Dates gewesen zu sein, sogar kurz bevor sie verschwunden ist... Ich kann nicht einmal sauer sein. Angeblich stand sie wohl auf ihn und er wollte nur was Einfaches. Dieser Ekel. Kein Wunder, dass ihn jetzt die Schuldgefühle innerlich auffressen. Übrigens meinte er auch, dass du von den Dates weißt. Dumme Ausrede, aber neben seiner Eifersucht und seinem Beschützerinstinkt wollte er mich auch deswegen von dir fern halten — damit du es mir nicht verrätst. Wie gesagt, ich kann nicht sauer auf ihn sein. Auf dich natürlich auch nicht.  Wenn überhaupt bin ich dankbar, dass du dich nicht überall einmischst und die Leute selber erleben lässt, was erlebt werden muss. Und auf Linda kann ich auch nicht sauer sein, selbst wenn sie an einer Schule voll mit Typen ausgerechnet meinen Cousin wollte... ich kann auf niemanden sauer sein. Und das ist irgendwie schwer." Sie atmete auf und schien selbst überrascht von ihrem Redefluss.

BorderlineWhere stories live. Discover now