55 | Wie erschaffe ich einen interessanten Konflikt? TEIL 2

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Hallo, ihr Menschen da draußen.

Nachdem wir uns in der letzten regulären Ausgabe bereits mit Konflikten in der Literatur und den verschiedenen Konfliktmusters auseinandergesetzt haben, geht es heute ans Eingemachte: die Anwendung des Ganzen. Wenn ihr letztes Mal aufgepasst habt, wisst ihr, warum Konflikte benötigt werden, könnt die verschiedenen Konfliktmuster unterscheiden, bzw. miteinander kombinieren und habt vielleicht schon eine grobe Vorstellung davon, wie euer Konfliktgerüst aussehen könnte. All das vertiefen wir nun.


55.1 | Startschuss finden

Dieser Punkt lässt sich nicht so leicht verallgemeinern, da jeder von uns anders an seine Geschichten herangeht. Dafür muss man sich die Frage stellen, womit man bei seinem Buch angefangen hat, was der Startschuss war. Ich persönlich starte bei Fantasy mit der Welt, bei Historischen Romanen mit einem ganz spezifischen Ereignis und bei RL-Geschichten mit dem Protagonisten, um von da aus die Konflikte zu spannen, doch viele von euch werden das anders handhaben. Daher möchte ich mich zwei der soeben genannten Versionen beziehen:


55.1.1 | Startschuss Protagonist

Das erste in eurem Kopf, wenn ihr an eure Geschichte denkt, ist der Protagonist? Dann ist es empfehlenswert, eine detaillierte Charakterisierung der Person durchzuführen, um dessen Schwächen und Stärken, Leidenschaften und Träume zu erkennen. Von da aus lassen sich Fragen stellen, die bereits einen spannenden Konflikt ergeben könnten.

Beispiel: Unser Protagonist Bartholomäus hat soeben sein Medizinstudium aufgenommen. Er ist sehr fleißig, intelligent und wenn er sich etwas vornimmt, schafft er das auch. Gleichzeitig kommt er in sozialen Situationen nicht wirklich gut zurecht, sagt in Gesprächen gefühlt immer das Falsche und ist in allen Kursen der Außenseiter, der in der ersten Reihe sitzt und sich bei jeder Frage meldet, aber abends alleine in seiner Wohnung sitzt, während seine Kommilitonen einen trinken gehen. Erst mit Mitte 20 erhält er die Diagnose Autismus.

Boom – da haben wir gleich so einiges an Konfliktpotenzial. Wird Bartholomäus sich dazu entscheiden, eine Therapiegruppe zu besuchen, um seine sozialen Ängste zu überwinden und die Auswirkungen seines Autismus einzudämmen? Oder geht er vollkommen in seiner Außenseiterrolle auf, lernt wie verrückt und schreibt das beste Abschlussexamen der Menschheitsgeschichte? Doch was dann? Wird er überhaupt einen Job finden und dort glücklich werden, wenn er nicht mehr als einsilbige Antworten geben und somit kein anregendes Gespräch führen kann? Geht ihm die Isolation zu nahe und er entwickelt Depressionen?

Und so weiter und so fort. Aus dieser einfachen Szene habe ich mir mehr als 25 Fragen aufschreiben können – damit ließe sich mit Sicherheit ein Roman füllen.

Meine 1. Frage: Welche Fragen könnte man anhand der gegebenen Informationen noch zu Bartholomäus' Schicksal stellen?


55.1.2 | Startschuss Ereignis

Ein historisches Ereignis, das alles verändert hat. Da fällt bestimmt jedem von uns mindestens ein. Und da Geschichte so vielschichtig beleuchtet werden kann, ist es kein Wunder, dass auch heute noch Werke über den Zweiten Weltkrieg zu Bestsellern werden und sich selbst junge Menschen für Historische Romane begeistern können. Aber wie kommt man von einem Ereignis zu einem mit Konflikten gefüllten Roman?

Beispiel: Die Zwillingsschwestern Berta und Brunhilde wurden im Alter von siebzehn Jahren getrennt, als die Berliner Mauer errichten wurde. 28 Jahre später, mit Berta im Osten und Brunhilde im Westen, fällt die Mauer. Berta ist inzwischen verheiratet und Mutter von drei Kindern, wird von ihrem Mann misshandelt und schwelgt in den Erinnerungen ihrer glücklichen Kindheit, ohne den Alltag zu genießen. Ganz anders geht es Brunhilde, die als gefeierte Musikproduzentin soeben einen Megahit gelandet hat und sich auf der Überholspur befindet. Unabhängig voneinander begeben sich die beiden auf die Suche nach der Schwester.

Auch ein Szenario, das von Konflikten geradeso trieft. Hier gehen wir wie folgt vor: erst ein spannungsgeladenes Ereignis (Mauerfall), dann das Ausfleischen der beiden Protogonistinnen – ausgehend von den kulturellen, finanziellen und strukturellen Unterschieden, die zur damaligen zeit zwischen Ost und West geherrscht haben. Allein durch diesen enormen Gegensatz sind Konflikte vorprogrammiert. Wie reagiert Berta auf den Erfolg von Brunhilde – wird sie neidisch oder kann sie es akzeptieren? Wird sie Brunhilde um Hilfe bitten, um von ihrem Ehemann wegzukommen, oder fällt sie zurück in ihre Rolle als devote Hausfrau, die sich alles gefallen lässt? Nimmt sie sich ihre Zwillingsschwester vielleicht als Vorbild und startet mit 45 Jahren noch eine Karriere? So viele Fragen, so viele Konflikte – ausgehend von einem historischen Ereignis.

Meine 2. Frage: Welches Ereignis, bzw. welche Epoche findet ihr derart faszinierend, dass ihr ein Buch darüber schreibt/ schreiben wollen würdet?


Meine 3. Frage: Welche anderen Startschüsse fallen euch ein?


55.2 | Konfliktmuster aussuchen

Die vier hauptsächlichen Konfliktmuster kennt ihr ja bereits. Nun heißt es, diese Konfliktmuster bewusst zu wählen und mit ihnen zu arbeiten. Nehmen wir das oben aufgeführte zweite Szenario der Zwillinge als Beispiel und sagen wir, die beiden verfallen in einen Streit. Da ist das Konfliktmuster 'Protagonist gegen Person/ anderen Protagonisten' eindeutig erkennbar.

Was heißt das für uns als Schriftsteller? Wir bauen diesen Konflikt über den Roman hinweg auf.

Wie wir das anstellen sollen? Nun ja, da gibt es die Möglichkeit der Andeutung. Vielleicht haben die beiden Schwestern früher oft gestritten und Berta erinnert sich daran, während sie auf der Suche nach Brunhilde ist. Oder Berta fühlt tatsächlich Stiche der Eifersucht, wenn Brunhilde von ihrem Erfolg erzählt? Hierbei muss bedacht werden: Weniger ist mehr. Und zwar nicht in dem Sinne, dass der Leser möglichst wenig vom Konfliktaufbau mitbekommen soll, sondern viel eher, dass man den Lesern nichts auf die Nase binden soll. So ist es empfehlenswert zu schreiben, dass Berta möglichst viel über Brunhildes Beruf wissen möchte und kritische Nachfragen stellt; so lange, bis selbst Berta sich wundert, was in ihre Schwester gefahren ist. Ein grobschlächtiger Fehler wäre, Bertas Gefühle einfach aufzuschreiben (à la 'Ich bin neidisch auf Brunhilde'), sodass jeder Leser gleich weiß, was der Autor sich dabei gedacht hat. Konflikte brodeln im Untergrund – das ist das Bestechende an ihnen.


55.3 | Konfliktmuster ordnen

In der vorangehenden Ausgabe bin ich auf Über-, Haupt- und Unterkonflikte eingegangen, denn ich finde es wichtig, diese Unterscheidung vorzunehmen. Wenn wir vom Zwillingsbeispiel ausgehen, sähe das wie folgt aus:

Überkonflikt: Ost gegen West

Hauptkonflikt: Schwestern, die nacheinander suchen

Unterkonflikt: Bertas Familienzustand; Brunhildes Karriere; etc.

Durch eine solche Konfliktstruktur finde ich es immer deutlich einfacher, den Überblick über meine Konflikte nicht zu verlieren und die Perspektive beizubehalten. Es wäre im obigen Beispiel etwa nicht angebracht, die Hälfte der Zeit über Brunhilde im Tonstudio zu schreiben, wie sie an einem neuen Song sitzt – viel eher sollte das Augenmerk immer auf die Beziehung zwischen den beiden Schwestern liegen. Man könnte es so formulieren: Der Überkonflikt ist das Kuchenrezept, der Hauptkonflikt der Teig und die Unterkonflikte die Verzierung. Wer möchte schon einen Kuchen essen, der von Zuckerguss geradezu trieft und dessen Teig nicht schmeckt?


So komplex und wichtig, wie dieses Thema ist, könnte ich mir fast vorstellen, ihm noch eine weitere Ausgabe zu widmen. Da würde ich dann ganz spezifisch auf eure Fragen eingehen – aber nur, wenn Interesse bestünde. So oder so danke ich euch für die Geduld und hoffe, dass auch diese Ausgabe einigen unter euch helfen und Antworten auf offene Fragen geben konnte!

Frohes Schreiben!

P.C.

P.C.'s SchreibratgeberWhere stories live. Discover now