52 | Wie gehe ich am besten an eine Textkürzung heran?

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Hallo, ihr Menschen da draußen.

Textkürzung ist schon so eine Sache: Man streicht nicht gerne Wörter, gar komplette Absätze seines Geschreibsels (immerhin hat man ja Zeit, Mühe und Gehirnsaft investiert), letztendlich muss man sich aber doch eingestehen, dass es notwendig ist, um einen qualitativ hochwertigen Text abzuliefern. Doch wie funktioniert das überhaupt, wie geht man es an? Und muss man sich wirklich strikt von allem trennen, das nicht zur Klarheit und Stilvollkommenheit des Textes beiträgt? Das möchte ich in der heutigen Ausgabe erläutern und gebe euch meine Tipps zur Kürzung eines literarischen Textes, denn so einfach, wie es klingt, ist es zumeist leider nicht.


52.1 | Den Text ruhen lassen

Der erste Schritt auf dem langen Weg der Textkürzung ist eine Distanzierung vom eigenen Geschriebenen. Das mag sich komisch anhören, doch gerade die dadurch gewonnene objektivere Sichtweise erleichtert das Schreiben enorm. Wenn ich jetzt gerade erst das letzte Kapitel eines Romans beendet habe und sofort danach das komplette Werk überarbeiten und kürzen möchte, kommt dabei oft eine Verbitterung und "Aber-ich-mag-die-Stelle-hier-so-gern"-Mentalität heraus.

Meiner eigenen Erfahrung nach ist es bei einzelnen Kapiteln gut, sich ein bis drei Tage Pause zu gönnen – bei einem kompletten Roman aber auch gerne ein bis drei Monate. Immerhin ist das Schreiben eines Romans eine unermessliche Investition, die schwer emotional behaftet wird. Sich also gleich ans Selbstlektorat zu machen, obwohl man das Geschriebene selbst noch gar nicht richtig verdauen konnte, gilt als eher kontraproduktiv. Daher lasst euch die nötige Zeit und seid dann eure schärfsten Kritiker!

Meine 1. Frage: Wie lange gönnt ihr euch nach dem Schreiben eines Kapitels/ eines kompletten Projektes eine Pause, bevor ihr euch ans Überarbeiten macht?


52.2 | Wort- und Satzeffektivität beachten

Bevor ich auf diesen Unterpunkt eingehe, möchte ich euch ein Beispiel zur Wort- und Satzeffektivität nahebringen.

Negativ-Beispiel:
Anscheinend ist die Lage in Syrien wohl in einem so derart unmessbaren Grade verfahren, dass die leidenden, hungernden und verzweifelten Einwohner langsam einsehen müssen, dass ihre ehemaligen Familienhäuser, in denen sie so viele unfassbar wunderschönen und berührenden Momente erlebt haben, dadurch, dass sie mitten im aktuellsten und neu aufgekommenen Kriegsgebiet stehen, dem Untergang geweiht sind, und werden sich nun leider nach einer Alternative umsehen und ihr tristes Leben vollkommen neu beginnen müssen.

Positiv-Beispiel:
Die Lage in Syrien ist so verfahren, dass die Einwohner ihre im Kriegsgebiet lokalisierten Häuser aufgeben und ihr Leben neu beginnen müssen.

Nun überlegt mal... Welches Beispiel vermittelt die Information direkter? Welcher Satz strotzt geradezu vor Füllwörtern, Passivformulierungen und Dopplungen? Besonders bei Schreibanfängern bekommt man oft das Gefühl, dass sie besonders lyrisch oder literarisch gebildet klingen wollen. Dabei kommen oft abstruse Formulierungen zustande, in denen Wörter zweckentfremdet werden.

Ich habe auch dazu gehört und dachte, mit durchgehend langen, verschachtelten und abstrahierten Sätzen Eindruck bei Lesern schinden zu können. Irgendwann habe ich mir dann aber mal meine Geschichten vorgenommen und gemerkt: Das ist purer Kauderwelsch. Anstatt in den Köpfen meiner Leser ein klares Bild zu erschaffen, drang selbst in meinen eigenen Kopf beim Lesen nur ein verschwommener Traum hindurch. Dadurch, dass ich noch nicht gut mit Worten spielen konnte, fiel es mir oft schwer abzuschätzen, welche Sätze noch zur Handlung und dem Spannungsaufbau beitragen und welche ein außenstehender Leser einfach überspringen würde.

Meine 2. Frage: Habt ihr auch schon mit Bandwurmsätzen wie im obigen Beispiel zu kämpfen gehabt? (Wenn ja, dann her mit den Originalen und einer Neuformulierung!)


52.3 | Klar formulieren

Dieser Punkt geht Hand in Hand mit der Wort- und Satzeffektivität, denn wer Wörter sinnvoll einsetzt und eigene Texte nicht mit Füllwörtern überlastet, schreibt auch deutlicher. Nun ist es jedoch so, dass wir hier nicht zum Werbetexten sind; wir wollen detaillierte Szenerien und atmosphärische Bilder in den Köpfen unserer Leser erschaffen, und dieses Ziel erreicht man nicht immer mit ausschließlich reduzierten Sätzen.

Manchmal ist es auch die Stimme des Erzählers, auf die man achten sollte! Ein erfolgreicher Naturwissenschaftler als Protagonist denkt grundsätzlich geradliniger und rationaler als eine Künstlerin in ihren Mittvierzigern, die in ihrem Umfeld für ihre eintretende Midlife-Crisis und Entscheidungsangst bekannt ist. Bei letzterer Figur kann es gerade interessant sein, mit verschwommenen Formulierungen zu spielen. Das wichtige hierbei, worauf sich auch die Überschrift "Klar formulieren" bezieht: Setzt deutliche Grenzen; hebt hervor, wenn die Künstlerin sich gerade in ihren Gedanken verliert und sich mit ihren viel zu komplizierten Gedankengängen selbst im Weg steht. ABER: Bleibt dabei konsequent! Es wirkt nicht gerade authentisch, wenn die Protagonistin eigentlich freigeistig durch die Welt geht, dann aber aus dem Nichts einen Moment der Erleuchtung hat, indem sie alles durchschaut, nur damit die Handlung eine neue Wendung bekommt. Wenn ihr einen Plottwist durch eine starke Charakterveränderung einflechten wollt, dann gestaltet den Aufbau dahin zwar subtil, aber so, dass der Leser nicht vollkommen davon überrascht wird.

Wie man einen gelungenen Plottwist schreibt, steht auch schon des Längeren auf meiner gedanklichen To-Do-Liste für diesen Ratgeber. Hätte jemand daran Interesse?


52.4 | Hilfe besorgen

"Den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen." Dieser Spruch beschreibt meinen eigenen Schreibvorgang ziemlich gut. Denn während ich mich in der Planung und subtilen Andeutung von Plottwists vergrabe, vergesse ich oft, dass das Ding mit den Romanen ja eigentlich nicht ohne das Schreiben funktioniert. Und wenn ich mich dann nach drei Stunden Planung ans Schreiben setze, bin ich oft so verstrukturiert (ja, dieses Wort gibt es – ich hab's schließlich selbst erfunden), dass ich gar nicht merke, was für einen Kladderadatsch ich schreibe. Da kann es unglaublich hilfreich sein, bei Außenstehenden nachzufragen; gerade, wenn es um Textstellen geht, bei denen man sich selbst unsicher ist. Im gleichen Atemzug erhält man auch noch eine Fremdeinschätzung zum Geschriebenen, ganz unabhängig von der Textlänge und Füllwörtern, also warum nicht?

Ich kann nachvollziehen, dass es vielen schwerfällt, Bekannten oder gar Verwandten einen Romanauszug oder einzelne Absätze zum Betalesen vorzulegen, doch wenn man die richtige Person anspricht, zahlt es sich aus. Und wenn euch das immer noch nicht überzeugt, gibt es ja auch hier auf Wattpad zahlreiche Nutzer, die ihre Dienste hinsichtlich Betalesen und Lektorieren anbieten.


52.5 | Zu guter Letzt: laut lesen

Vor vielen Ausgaben habe ich diesen Punkt schon einmal erwähnt, möchte ihn hier aber nochmals gezielt thematisieren. Sobald ihr auch nur auf den Gedanken kommen solltet, euer Kapitel wäre nun genug gekürzt, lasst euch eins sagen: Das ist es wahrscheinlich nicht. Irgendetwas übersieht man immer. Um das zu vermeiden, spiele ich gerne Erzählstunde und lese mir selbst mein Werk vor. Das kann zwar dauern und klingt mühsam, aber abgesehen von nötigen Textkürzungen fallen euch so auch noch unglückliche Formulierungen, Tippfehler und sonstige Fehlerchen in eurem Text auf. Niemand kann perfekt schreiben, auch nach hundertfacher Korrektur wird nicht jeder mit eurem Geschriebenen zufrieden sein, aber ihr könnt durchs laute Vorlesen zumindest sicherstellen, dass ihr hinter eurem Schaffen stehen könnt. Und das ist ja auch das Wichtigste.


Und? Heute bereits gekürzt? Ich schon – bei dieser Ausgabe. Ich hoffe, dass sich das ausgezahlt hat und ihr heute auch wieder einiges mitnehmen konntet. Bis zum nächsten Mal, "ihr Menschen da draußen". Hach, das sage ich immer so gerne.


Frohes Schreiben!

P.C.

P.C.'s SchreibratgeberWhere stories live. Discover now