45 | Wann sind Trigger-Warnungen empfehlenswert?

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45.3 | In Watte packen oder ins kalte Wasser werfen?

Das ist die Frage aller Fragen. Denn wenn man sich in Diskussion im Internet einhakt, scheint es zwei festgefahrene Lager zu geben, die sich gegenseitig bekriegen: diejenigen, die ihre Mitmenschen lieber sprichwörtlich in Watte packen und auf deren individuellen Ängste, Phobien und Traumata eingehen wollen, und diejenigen, die das ganze Gewusel um Trigger-Warnungen vollends übertrieben finden. Ihrer Aussage nach würde in einem Gespräch mit entfernten Bekannten oder Fremden doch so oder so niemand von den eigenen Problemthemen wissen, weshalb es deutlich effektiver wäre, offen damit umzugehen und solche Thematiken nicht unter den Tisch zu kehren, sondern wie jeder andere normal über sie zu sprechen.


45.4 | Pro: kaltes Wasser

Zuallererst sollte ein weniger emotional, sondern rational orientierter Punkt vorgebracht werden: Trigger-Warnung können in der Handlung vorgreifen und möglichen Plottwists dem Moment der Überraschung bestehlen. Doch in der Diskussion um Trigger geht es überwiegend emotional argumentiert zu, weshalb sich die Hauptschwerpunkte der "kaltes Wasser"-Verfechter darauf stützen, dass es ja so oder so nichts bringe, Menschen im Jugendalter nicht an den Ernst des Lebens heranzuführen und sie stattdessen mit Märchen, Sagen und Regenbogengeschichten zu umgeben, die alle schlussendlich doch ein Happy Ending haben. Stattdessen solle es angesichts der zunehmenden Verrohung der Gesellschaft realistisch zugehen, auch wenn das sensible Themen wie psychische Gewaltausübung, Blut und Tod mit sich bringe. Letztlich brächte es Betroffenen ja auch nichts, wenn sie in Literatur und im engen Familienkreis wie ein unschuldiges Baby behandelt würden, aber irgendwann doch einen Schritt in die echte Welt mit all ihren Grausamkeiten wagen müssten.


45.5 | Pro: Watte

Die Verfechter der "Watte" haben ein aussagekräftiges Hauptargument, das man selbst als Gegner dieser Überzeugung kaum anfechten kann: Negative Trigger haben negative Folgen für Betroffene. Zudem würden ihrer Aussage nach Trigger-Warnungen dafür sorgen, dass für eine höhere Sensibilisierung für die betroffenen Themen gesorgt werde. Vielleicht würden einige, die sich der Problematik zuvor nicht bewusst waren, aufwachen und selbst mehr auch auf ihren Umgang mit solchen Thematiken achten.

Zuletzt bleibt zur "Watte" zu sagen, das ein jeder selbst entscheiden kann, wie dick er seine Leser einpacken möchte. Ob es nur eine dünne Schicht ist, die als kleine Vorwarnung dienen soll, oder ob man seine Leser so sehr in der kinderfreundlichen Watte versinken lässt, dass sie nicht mehr über ihren mit Einhörnern und Glitzerdetails verschönerten Tellerrand schauen können, bleibt in unserem individuellen Ermessen als Schriftsteller. Und hier auf Wattpad haben wir den Vorteil, unsere Leserschaft größtenteils zu kennen und sie einschätzen zu können: Wäre diese oder jene Szene vielleicht doch zu extrem für sie? Oder halten meine Leser das locker aus? Diese Fragen sollte man sich jedoch unabhängig von der jeweiligen Beantwortung unbedingt stellen.

Meine 2. Frage: Zu welchem Standpunkt – Watte oder kaltes Wasser – tendiert ihr persönlich eher?


45.6 | Meine Meinung als Betroffene

"Betroffene? Was soll das jetzt heißen?", fragt ihr euch?
Machen wir es kurz und schmerzlos – irgendwie bin ich nervös: Ich selbst wurde bereits Opfer sexueller Gewalt und physischer Übergriffe, leide unter chronischen Depressionen, habe Probleme mit dem Thema Suizid und arbeite in dem Zug an der Bewältigung schwerer Traumata. Von daher würde ich mich als ziemlich passender Vertreter der Betroffenen negativer Trigger ansehen und möchte euch meine Sicht der Dinge ein wenig näherbringen.
Ich persönlich bin immer dankbar für Trigger-Warnungen, die mit den obengenannten Themen zu tun haben, da es auch Tage gibt, an denen mich ein Artikel über Vergewaltigung über die Klippe stürzen würde. Doch auch wenn es mir an anderen Tagen psychisch gut geht und ich persönlich mich theoretisch mit der Materie befassen könnte, muss ich an andere Betroffene denken, die nicht die Kraft haben, sich mit dem Thema und dem aufkeimenden Trauma, das damit einhergeht, auseinanderzusetzen. Daher habe ich den Grundsatz: Lieber einmal zu viel als einmal zu wenig – auch wenn da natürlich wieder die Debatte entstehen könnte, was für einzelne Menschen mit ihren individuellen Schicksalen zu viel ist.

Nun zu einem praktischen Beispiel aus meiner Arbeit als Schriftstellerin. Für diejenigen unter euch, die meinen hier veröffentlichten Roman nicht gelesen haben, möchte ich kurz die groben Tatsachen umreißen: Die Handlung spielt in einer psychiatrischen Klinik (1. Trigger), in der eine siebzehnjährige Schwerstdepressive (2. Trigger) mit anderen erkrankten Jugendlichen (3. Trigger) das Leben wiedererlernen muss. Doch all das wird bereits aus dem Klappentext deutlich, weshalb Betroffene, die sich nicht in der Lage sehen, sich mit diesem Thema in einem Roman auseinanderzusetzen, schnell die Möglichkeit erhalten, das Buch für sich auszuschließen. Allein der erste Satz listet ihre Erkrankungen auf und geht dadurch sehr transparent mit den möglichen Trigger-Themen um.
Doch – Achtung, Spoiler – im Zuge der Handlung begeht sie einen gescheiterten Suizidversuch (TRIGGER). Das Kapitel zu Letzterem war jedoch das einzige im gesamten Buch, das ich mit einer Trigger-Warnung versehen habe. Wieso? Weil es einigermaßen unerwartet kam, zu einem Zeitpunkt in der Handlung, in dem man mit dem Fortgang ihrer Heilung rechnet. Weil ich mir nicht sicher war, in welcher Verfassung meine Leser sein würden, wenn sie dieses spezifische Kapitel lesen würden, habe ich an der Stelle eine Warnung an den Kopf des Kapitels gesetzt und dafür im Rahmen diverser Privatnachrichten Dank von Lesern erhalten, die das Kapitel dann entweder übersprungen oder zu einem späteren Zeitpunkt gelesen haben. Das hat sich in dem Moment wie ein sehr guter Kompromiss für mich angefühlt.

Grundsätzlich finde ich es vollkommen in Ordnung, dass manche Menschen sehr sensible Themen haben, über die sie nicht sprechen wollen; wenn man aber nicht einmal mehr das Wort aussprechen oder hören kann, ohne getriggert zu werden, sollte man sich unbedingt professionellen Beistand suchen.

Zudem stellt sich mir die Frage, bei welchen Themen die Notwendigkeit für eine Warnung beginnt. Erst kürzlich habe ich einen Vlog auf YouTube gesehen, in dem eine Frau auf einmal eine Trigger-Warnung für eine sogenannte Essgeräusch-Phobie aussprach, bevor sie in einen Muffin biss. Das fand ich persönlich sehr skurril, selbst wenn es für die Betroffenen sicherlich eine nützliche Information war. Anders sehe ich es bei Videos, in denen sich sogenannte True-Crime-YouTuber mit Kriminalfällen befassen. Wenn ein Fall beispielsweise Pädophilie oder Kindsmord beinhaltet, ist es in meinen Augen angebracht, das im Vorhinein für die Zuschauer klarzustellen.

Meine 3. Frage: Wie steht ihr zu den Beispielen Essgeräusch-Phobie und True-Crime-Videos?

Und auch hier auf Wattpad gibt es einen einigermaßen adäquaten Kompromiss, der in meinen Augen aber noch weiter ausgebaut werden könnte: die Einstufung unter Erwachseneninhalt. Wieso nicht wie bei reeller Literatur noch weitere Altersunterstufen einführen? Ab 0, 6, 12, 16, 18 – und ohne höher eingestufte Werke zu diskriminieren, indem sie von allen Rankings entfernt werden?


Ihr fandet das Thema dieser Ausgabe interessant? Dann bedankt euch bei RoReRaven, die mich vor einigen Wochen diesbezüglich angeschrieben und nach meiner Meinung zu dem Ganzen gefragt hat. Da ich die Fragestellung sehr faszinierend finde, habe ich mich kurzerhand dazu entschlossen, darum eine komplette Ausgabe aufzubauen. Zugegebenermaßen hatte ich anfangs mit einem etwas kürzeren Kapitel gerechnet, aber mittlerweile habe ich die durchschnittliche Wortanzahl schon um Längen überschritten.

Wenn ihr ähnlich polarisierende und interessante Ideen/ Themen für eine Ausgabe bereithaltet, würde ich mich sehr freuen, wenn ihr sie mir entweder hier direkt in den Kommentaren oder etwas privater in einer Direktnachricht zukommen lassen würdet. Ihr kennt die Prozedur, Freunde. Und hiermit entlasse ich euch in eine hoffentlich negativtriggerlose Woche!

Frohes Schreiben!

P.C.

P.C.'s SchreibratgeberWhere stories live. Discover now