Kapitel 108

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Lana Del Ray - Young and Beautiful

Freitag, 29. Mai

Heute ist es also soweit. Ich weiß nicht, wie ich mich fühlen soll. Das Gerichtsverfahren beginnt gleich. Shevin ist sehr überzeugt und sehr entspannt, aber ich kann seit Tagen nicht richtig essen und schlafen. Die Klausuren, die ich geschrieben habe, werden nicht die Zensur haben, die ich sonst immer bekommen habe. Meine Herzprobleme bin ich wieder los geworden, durch Medikamente und Cans Tumor musste entfernt werden, sonst wären irreparable Schäden aufgetaucht. Ich habe geweint. Und wie ich geweint habe. Ich bin zusammengebrochen und brauche die Unterstützung meiner Freunde, die bei mir übernachtet haben. Ich konnte das nicht. Ich konnte mir weder etwas zu essen machen noch richtig die Wohnung säubern. Ich will nur noch befreit werden, mehr nicht. Mehr verlange ich doch nicht. Heute ist der Tag der Entscheidung. Heute wird nicht nur über Cans Zukunft, sondern auch über meine Psyche geurteilt. Ich habe so Angst. Ich will nicht in den Gerichtssaal und würde mir am liebsten selber eine reinhauen, dass ich eine Zeugin bin. Aber ich will Can verteidigen. Ich kann meinen Mann doch nicht alleine lassen. Ich muss ihm zur Seite stehen! Ich werde das schaffen! Tief atme ich durch und sehe zu unseren Müttern, die beten. Ungeduldig warte ich auf Can. Ich schaue zu Shevin, die mit Dr. Al-Kon und dem Arzt spricht. Es wäre mir angenehmer, wenn Dr. Merzinger hier wäre, was aber nicht der Fall ist. Ich werde mein ganzes neurologisches und psychologisches Wissen herauskotzen. Ich muss Can helfen. Ich würde so gerne ein aufrichtiges Gebet aufsagen, aber ich bin zu nervös und hibbelig, sodass ich mich nicht konzentrieren könnte. Stattdessen schicke ich Stoßgebete in den Himmel. Bitte lass es nur dieses eine Mal gut gehen, Allah. Nur dieses eine Mal. Ich habe sehr oft gebetet und dabei auch die Patronenkette dabeigehabt, weil sie laut Can einen Zauber besitzt und war auch bei Asmans Grab, habe dort gebetet, weil ich das Gefühl hatte, es bringt etwas. Hoffentlich hilft der Zauber Can und mir aus unserer misslichen Lage.

Shevin schaut zu mir und lächelt selbstsicher. Ist die ganze Familie so oder nur Can und Shevin? "Komm her." Seufzend gehe ich auf sie zu und lasse mich in den Arm nehmen. "Shana, alles ist gut. Wir besitzen den Kopf von zwei Ärzten, einem Psychologen und einer Top-Anwältin. Can wird nicht ins Gefängnis kommen, da schwöre ich hoch und heilig drauf." Ich liebe Shevins Selbstbewusstsein, aber mein Pessimismus würde sie für diese Aussage verprügeln. Der Richter macht alles abhängig. "Das Gutachten steht. Er drückt wieder auf die Amygdala und den Hypothalamus?", frage ich den Neurologen noch einmal, welcher mir zunickt. Ich müsste Can wegen seiner Selbstlosigkeit so heftig zusammenschlagen, sodass ich ihn mit Freude im Krankenhaus lassen könnte. Er hätte komplett zu Grunde gehen können wegen des Tumors! Weiß Gott wie lange die Chemotherapie dauern wird, bis alles weg ist. Dr. Merzinger durfte die Operation zum Glück leiten, was mich erleichtert hat. Alle sind ordentlich angezogen. Ich habe helle Jeans verboten. Alle tragen schwarze Hosen. Die Männer tragen Hemden mit oder ohne unbedruckten Sweater. Ich trage eine weiße Bluse und eine schwarze Hose. Weil ich nicht in Sneaker auftreten wollte, musste ich mir von Saliha Chelsea-Stiefeletten klauen. Ich laufe seufzend auf meine Freundinnen zu. "Shana, dein Leben ist ein Film", sagt Ranja mit einem kleinen Lächeln. "Der Film soll endlich enden", murmele ich mit einem schwachen Lächeln. Viyan hat sich die Wochen zurückgezogen - warum auch immer. Sie ist nicht hier, aber ich habe schon bemerkt, dass sie neue Freunde gefunden hat und ihre Interessen nicht mehr unseren gleichen. Dumm, aber es ist mir egal. Ich habe Ranja, Saliha und Meryem, die ich nicht verlieren werde, selbst, wenn wir uns ein Jahr nicht sehen werden.

Ramazan und Malik sind neben Celal, der die Ruhe selbst ist. Eigentlich ist Malik der Ruhige, aber auch er wirkt sichtlich angespannt. Ramazan hüpft einmal und lockert seine Schultern, bevor er mein Beobachten bemerkt und mich anlächelt. "Wir schaffen das", meint er. Mir steigen sofort die Tränen auf. Ich nicke. "Hoffentlich", wispere ich. "Nein, das ist kein richtiger Satz. Sprich mir nach: Wir. Scha-, komm, sprich mir nach." Er entlockt mir ein kleines Lachen und bringt mich dazu, seinen Satz nachzusagen. "Wir schaffen das", flüstere ich. Die Verhandlung beginnt um 09:00 Uhr. Ich habe um 06:30 Uhr mit allen Freunden das Frühstück für uns gemacht, damit ich genügend Nervennahrung habe. Unsere Familien und wir haben uns vor dem Landesgericht getroffen. Wenn Can verliert, verliere auch ich. Ich habe dieses nervöse Ziehen im Bauch und will Klarheit. Ich habe auch befohlen, dass alle ihre Handys im Flugzeugmodus haben, damit auch ja kein Nachrichtenton ertönt. Alles muss perfekt sein. Wie wird Can aussehen? Shevin und ich haben ihn ein Hemd und eine schwarze Hose vorgelegt. Ich fahre mir über meinen französischen Zopf. Es wird hoffentlich alles gut. Ich habe alle Ohrstecker rausgenommen, außer die ersten, wo kleine Kristallohrstecker hängen. Meine Rosen- und Cans Patronenkette habe ich vorsichtshalber in der Bluse versteckt, weil Shevin meinte, dass Richter und weitere Beatme bei dem Erscheinungsbild sehr revidierend sind. Alles muss perfekt sein. Mein Perfektionismus hat nichts außer Acht gelassen. Ich trage sogar Concealer und Mascara, damit ich vitaler aussehe. Ungeduldig fahre ich über meinen Ehering und bete, als ich mich endlich etwas fassen konnte. Ich wäre nicht einmal vor dem Hammerexamen so nervös. Ich war noch nie so nervös. Keine Abiturprüfung hätte mich aus der Bahn werfen können, aber kaum kommt es zu einer Gerichtsverhandlung, wo Cans Zukunft bestimmt wird, bin ich dem Zusammenbruch nahe.

AkzeptanzWhere stories live. Discover now