Kapitel 102

43K 1.1K 393
                                    

Lewis Capaldi - Bruises

Dienstag, 5. Mai

Ich bin immer noch nicht zum Arzt gegangen. Aber ich konnte mich selber kurieren, indem ich die Tage immer ein Bad genommen habe, bewusst langsam geatmet habe und den Mord immer weiter als Vergangenheit ansehe. Natürlich werde ich es nie vergessen, aber ich will mir nicht selber weiter schaden. Die Scheidungspapiere habe ich gestern abgefangen, sowie Can damals den Brief mit Soufian abgefangen hat. Ich rede auf jeden Fall mehr als die Tage davor. Vielleicht liegt es daran, dass die Uni mich ablenkt. Ich muss die ganze Zeit an den Tumor denken und daran, dass Can jederzeit erwischt werden kann. Aber ihn interessiert das nicht. Er läuft ganz entspannt mit seinem Tablett auf mich zu und lässt sich vor mir nieder. "Iss, du hast die Tage so wenig gegessen." Ich knabbere am Salat. Ich bin immer noch antriebslos, aber besser als die Tage zuvor. "Soll ich dir etwas Richtiges holen?" Ich schnalze mit der Zunge. Can mustert mich genau, zieht prüfend die Augenbrauen zusammen. "Du hängst immer noch an Freitag?" Ich beantworte es mit einem Schulterzucken. Ich weiß immer noch nichts. "Lass dir diesen Tumor entfernen", flüstere ich. "Shana, du weißt, dass ich das nicht kann." "Du kannst es. Hör auf, dich so dumm zu stellen", fauche ich. Es regt mich so auf, dass er sein Leben aufs Spiel setzt. "Du wirst es bereuen, Can." Mehr sage ich auch nicht mehr. Ich warte nur darauf, dass dieses Seminar endet, damit ich ihm die Scheidungspapiere vorlegen kann. Ich weiß ganz genau, dass er verrückt wird. Ich weiß gar nicht, wie ich das machen soll. Soll ich es einfach vor ihm hinlegen? Ich weiß es nicht. Cans Kiefer zuckt. Er senkt seinen Blick. Ich trinke mein Mineralwasser. Ich trinke mehr, als ich esse. Ich habe einfach keine Lust. Ich habe aber wenigstens einen Teil meiner Gefühle zurück. Ich bin neugierig auf das, was heute passieren wird.

Das Seminar ist endlich vorbei. Can hat geschwiegen. Vielleicht spürt er ja, dass etwas auf ihn zukommt. Manchmal besitzt man dieses unerklärliche Gefühl einfach - ich kenne es ja schon ziemlich gut. Ich weiß gar nicht, wie ich mich dabei fühle. Irgendwie bin ich aufgeregt, aber gleichzeitig fühle ich nichts. Ach, was passieren wird, liegt noch ein kleines wenig in der Zukunft. Wann war ich das letzte Mal apathisch? Das weiß ich nicht. Vielleicht in der Trennungsphase von Can und mir. Was soll ich heute kochen? Ich habe gar keine Lust zu kochen und irgendwie auch sehr wenig Appetit. Ich mag diese Stille zwischen Can und mir eigentlich selten - diese bedrückte Stille -, doch jetzt ist es mir egal. Es ist für mich gerade sogar besser, als, wenn wir reden würden. Was würde eigentlich passieren, wenn Can jetzt durch den Tumor nicht richtig sehen könnte? Könnte er sich trotzdem beherrschen und rechts ranfahren oder würde er in Panik geraten? Sorgen mache ich mir keine drum. Ich schaue den ganzen Weg nach Hause aus dem Fenster und beobachte die vorbeifahrenden Dinge, weil ich gerade nicht so ganz in der Lage bin, um Gedanken zu fassen. Wir laufen gemeinsam hoch. Heute herrscht schon schönes Wetter, aber die Sonne macht mich nicht glücklich. Gleich ist es soweit, gleich werde ich die Scheidung ansprechen. Jetzt schlägt mein Herz doch deutlich schneller - oder es liegt am Treppensteigen. Er lässt mir den Vortritt. Ich streife mir die Schuhe ab und hole die Papiere, setze mich mit ihnen im Wohnzimmer hin. Oben in der Mitte steht Scheidungsauftrag in fettgedruckten Buchstaben auf dem ersten Zettel und dann kommen viele Spalten, die man ausfüllen muss. Scheidung. So etwas zu tun, würde niemals für mich in Frage kommen. Es bereitet mir schon ein schlechtes Gefühl, daran zu denken. Ich will Can damit einfach nur eine Lektion erteilen. Ob ich das hinkriege, ist eine noch offene Frage. Ich starre das Wort solange an, bis Can aus dem Bad tritt.

Ich schaue zu ihm auf, die Ellenbogen auf den Knien abgestützt, das Kinn auf den Händen drückend. Seine Augen wandern zu den Papieren. "Ich will nicht mehr", flüstere ich. Als wurde Can vom Blitz getroffen, weicht er zurück. Es ist faszinierend, wie schnell sich seine Atmung beschleunigt. "Nein." Can schüttelt den Kopf. "Nein!" Hysterisch lacht er auf. "Das geht so nicht mehr weiter, Can." Ich hoffe, ich habe trotz des Flüsterns deutlich gesprochen. "Oh nein, nein, nein." Can läuft panisch hin und her, schaut mich ängstlich an, schüttelt wild den Kopf. Mir wird jetzt schon mulmig. "Shana, nein, das kannst du doch nicht tun!", ruft er. Sein linker Arm zittert. Can rauft sich sein Haar. Es tut mir so verdammt weh, Can so zu sehen. So hilflos und verzweifelt. "Nein, das unterschreibe ich nicht!" Er will sich die Papiere nehmen, doch ich ziehe sie schnell hinter meinen Rücken. Can kommt mir nicht zu nahe. Er wirkt blass im Gesicht, seine Augen wirken glasig. Er tut mir so verdammt leid. "Shana, nein, wieso tust du das? Ich habe dich doch nur beschützt!" Ich weiß, Can. Ich atme tief durch. "Du hörst nie auf mich. Ich habe keine Lust auf deine leeren Versprechen." Can atmet fassungslos ein. "Aber es ist doch vorbei! Shana, es gibt nichts mehr, was ich machen will, Shana. Shana, ich flehe dich an, mach das nicht!" Er hält sich schreiend seinen Kopf. Ich kneife mir in meine Schenkel, um ruhig sitzenzubleiben. Das ist für mich selber eine Tortur. Ich blinzele mir Tränen weg. Es tut so weh. "Du hast doch bei Aleyna auch nicht direkt zur Scheidung gegriffen!", ruft Can wütend. Nun ziehe ich die Augenbrauen zusammen. "Du kannst diese Situation nicht damit vergleichen, Can!" Meine Stimme bricht am Ende. "Wieso nicht? Was unterscheidet sich denn? Weißt du nicht mehr, wie wütend du warst? Wie lange du fort von mir warst?" "Can, sei still. Ich kann das nicht mehr!" Ich muss husten, weil meine Stimme so trocken ist. Ich will nicht mehr dagegen ankämpfen. Ich kann und will nicht mehr.

AkzeptanzWhere stories live. Discover now