Kapitel 5

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Beth - Wherever You Will Go

Samstag, 6. Juli

Es ist warm. Es herrscht absolutes Traumwetter hier in Hamburg, aber die Sonne schafft es nicht, meine Trübsal und meine Melancholie weg zu blenden - leider. Mal wieder bin ich um 03:03 Uhr aufgewacht. Ich würde gerne einmal etwas in meinen Träumen sehen können. Etwas, was mir ein Zeichen gibt, kleine Hoffnungsschimmer, aber Fehlanzeige; ich wache so monoton auf, wie ich einschlafe. Bis jetzt habe ich mein Tränenkontingent etwas zugeschraubt, trotzdem bin ich labil. Wie könnte mich das Ereignis bitteschön auch kalt lassen? Paradoxerweise war ich diejenige, die Verluste locker weggesteckt hat - war. Seit Can, hat sich so einiges an meinen Regeln und Normen geändert, und das nur durch ein kleines, großes Etwas, namens Liebe. Ich habe gelernt, verzeihen zu können, kann empathisch sein, denke über jemand anderen nach - Can. Ich interessiere mich wahrhaftig für das, was mir ein anderer Erzählt, auch wenn es sich nicht um mich handelt, ich bin bereitgewesen, Opfer für Can zu bringen, aber das alles, was gute Resonanzen sind, sind nicht einmal annähernd so besonders, wie vor dem 29. Juni. Mein ach so toller, vierundzwanzigster Geburtstag. Der schönste Tag der Welt! Ich verdrehe die Augen und stehe langsam auf, lasse den Blick zur schwarzen Rose gleiten und schaue auf mein Handy. Ich habe Can immer und immer angerufen. Die letzten Tage wollte ich mit ihm reden, doch entweder habe ich ihn nicht gefunden oder er hat mich abgeblockt. Die Tage bis zum letzten Tag des sechsten Semesters vergingen trübe und still. Can ist nicht wieder zu mir nach Hause gekommen. Bedrückt fahre ich über den Stoff von Cans T-Shirt und spüre, wie die Tränen wiederaufkommen wollen, weswegen ich das Zimmer mit dem Handy verlasse und von Ranja und Saliha vorsichtig angelächelt werde. Kurz lasse ich meinen linken Mundwinkel zucken, da mir ein Lächeln nur missglücken würde und lasse mich auf dem Barhocker nieder.

"Ich treffe mich heute mit Malik und Ramazan. Ich möchte mit ihnen reden", flüstere ich. Ich nehme mir das Fladenbrot und lege Schafskäsestücke in ein abgerissenes Stück. "Möchtest du vielleicht mitkommen? Wir wollen heute etwas raus. Nachts ist es total angenehm, wegen des Wetters", schlägt Ranja vor, was ich jedoch verneine. Ich bin froh, dass mein Appetit nicht abgesackt ist. Schweigend essen wir, wobei ich die Erste bin, die fertig ist. Langsam putze ich mir die Zähne und muss zur Tür schauen. Gefällt dir, was du siehst? Das habe ich Can damals grinsend gefragt, als er mir beim Zähneputzen zugesehen hat. Schnell verwerfe ich diesen Gedanken und laufe wieder ins Zimmer, lege mich hin und stelle mir bildlich die jetzige Situation bei den Jungs vor. Sicher frühstücken sie. Can ist bestimmt still und vielleicht auch aggressiv. Ob Ramazan den Tee schlürft? Ich würde so gerne jetzt dabei ein. Bald sind wir im Urlaub. Ich habe Angst davor, ehrlich gesagt. Ich dachte, dass es schön wird, dass Can und ich uns einmal eine richtige Pause vom Studium nehmen können, aber da war ja noch nicht klar, welch Unheil uns heimsuchen wird. Ich mache mich fertig, damit ich mit Ranja ins Krankenhaus wegen meiner Untersuchung fahren kann, auch wenn ich weiß, dass die Betablocker alles geregelt haben.

Ich werde von Ranja an dem Café abgesetzt, wo Malik und Ramazan schon auf mich warten. Es ist das Café, indem ich mit Cihan geredet habe. Langsam betrete ich es und umarme beide Jungs innig, trenne mich aber schnell, bevor ich in Tränen ausbreche. "Wie geht es dir?", fragt Malik mich, woraufhin ich ein Schulterzucken von mir gebe. "Weiß Can, dass ihr hier mit mir seid?" Beide schütten den Kopf. "Er hätte sicherlich randaliert", murmelt Ramazan seufzend. Er hat recht. Cans Kräfte - vor allem, wenn er aggressiv ist -, können animalisch sein. Ich spiele mit meinen Nägeln herum und senke den Blick. "Wie verhält er sich?", möchte ich wissen. "Still. Still und aggressiv. Wenn er nicht zuhause und nicht im Fitnessstudio ist, betrinkt er sich", erzählt mir Ramazan. Ich schlucke. Er ist betrunken zu mir gekommen. "Wir haben ihn jetzt dazu gebracht, keine Sachen mehr zu zerstören. Als ich nach Hause kam, waren einige Teller zerstört", gibt Malik nun Preis. Stumm nicke ich. Ob es die beiden irgendwie mitbelastet? "Lässt er mit sich reden?" Beide schütteln den Kopf. Damit kommen wir niemals weiter. "Hat er noch Albträume?" Mein T-Shirt ist ja bei ihm. "Manchmal steht er nachts auf, bleibt lange wach und versucht dann nach Sonnenaufgang wieder zu schlafen. Das passiert meistens ab 03:00 Uhr." 03.00 Uhr? Da wache ich doch immer auf. Mein Herz schlägt augenblicklich schneller und mir wird wärmer, als es schon ist. Das kann nur das Schicksal sein, das kann nur das Tun Gottes sein. Anders kann ich es mir nicht erklären. "Seid ihr mal in sein Zimmer gegangen?", frage ich leise, da ich immer noch die Fakten abspeichern muss. "Er schließt die Tür oft ab, wenn er drin ist oder rausgeht, aber wenn nicht, dann ist er ruhiger", erzählt Malik. Seufzend fahre ich mir durch meine Haare. "Trinkt er viel?" Ich will nicht, dass er sich noch ins Koma trinkt. Das Trinken wird ihn nicht helfen. Er muss aus seiner Ignoranz aufwachen und das geht nur mit der Akzeptanz mir gegenüber. "Ja", seufzt Ramazan. "Er ist zur Zeit viel mit seinen Kollegen unterwegs, wenn er nicht boxen geht. Er will einen Waffenschein machen." Was?! Meine Augen weiten sich. Etwas perplex und hysterisch streiche ich mir eine Strähne zurück. "Aber... aber das fordert doch viel Geld oder nicht? Muss man keine Tests bestehen, die auch auf die Psyche zurückgreifen? Wenn Can Anzeigen hatte oder sonstiges in seinem Strafregister ist, wird das nichts. Wieso will er einen Waffenschein machen?!", frage ich zuletzt wütend und hysterisch.

AkzeptanzWhere stories live. Discover now