Kapitel 90

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Elle Hollis - Let It All Go

Freitag, 31. Oktober

Ich glaube, diese Woche hätte ich lieber zuhause bleiben sollen. Ich war wegen des Stäbchens bei der Gynäkologin und als ich wieder wegen der Totgeburt gefragt habe, meinte sie, dass es eine Fehlgeburt sei und keine Totgeburt. Aber ich habe doch ganz deutlich gehört, wie sie Totgeburt gesagt hat. Spinne ich? Wieso habe ich Totgeburt verstanden? Bin ich komplett verrückt? Hat das etwas zu bedeuten? Das frage ich mich seit Dienstag, aber ich finde keine Antwort. Ich bin danach auch zum Dermatologen gegangen, weil ich nicht bis Samstag warten wollte. Es ist ein normales Muttermal, somit habe ich eine von Cans Sorgen eliminiert. Ich kann mir trotz neurologischen Kenntnissen nicht erklären, warum ich statt Fehl- die Totgeburt verstanden habe. Ich habe Angst vor einer Geburt. Was, wenn mein erstes Kind dann stirbt und das eine Totgeburt ist? Was, wenn das eine Nachricht Gottes ist? Ich werde verrückt. Ich will nicht aus dem Bett kommen. Um 09:45 Uhr ist die Ausschabung. Ich will nicht, ich kann nicht. Niemand kann mir meine Frage beantworten. Kann es der Therapeut? Aber es ist Cans Sitzung und nicht meine. Aus irgendeinem Grund habe ich Totgeburt verstanden. Sterbe ich also bald? Gott bewahre mich bitte davor. Was bedeutet das? Stirbt jemand und wird danach jemand geboren? Ob Tot-oder Fehlgeburt, mein Kind ist tot. Heute ist einer der Tage, wo Can schläft und ich wach bin. Ich könnte heute eigentlich länger schlafen, aber ausgerechnet mir passiert eine tot-, eine Fehlgeburt. Seufzend schmiege ich mich an Cans warme Haut. Die Tage hat er mich unterstützt, er hat mir Geschenke gemacht und mir meine liebsten Speisen gekocht. Er will wieder arbeiten gehen, aber ich will nicht, dass er sich überlastet. Ich fahre über das Tattoo auf seiner Brust. Nach der Ausschabung und der pathologischen Untersuchung wird unser Kind begraben. Wir sind nicht verpflichtet, es bei einer Beerdigungsstätte zu melden, ich wollte es sowieso persönlich machen. Es wird in einem kleinen Kreis gehalten. Nur die Eltern und wir beide. Wieder fahre ich über das Tattoo. Heute werden wir gemeinsam zu Cans Therapeuten fahren, Can wird über den Unfall reden. Meine Hand fährt über sein rasiertes Gesicht. Die Tage hat er wieder seinen Arm bemalt, das hat mich glücklich gemacht. Ich hoffe, dass es ihm hilft.

"Schlaf doch noch etwas", murmelt er, als er mich an sich drückt. "Ich kann nicht." Mache ich das Richtige? Das Kind auszuschaben hört sich so eiskalt an. Aber es würde meiner Gesundheit schaden. "Kannst du mir erklären, wieso ich Totgeburt verstanden habe?" Er schüttelt den Kopf. "Zerbrich dir darüber nicht den Kopf, Shana. Es ist nicht deine Schuld." Ich muss die ganze Zeit daran denken. Es muss doch einen Grund geben, wieso ich tot verstanden hat. "Ich flehe dich an, Can, mach bitte nichts Falsches", flüstere ich. Ich werde wirklich verrückt, vor allem, da Soufian wieder hier ist. Can versucht sich zwar zurückzuhalten, aber ich weiß, dass er nicht will, dass ich rausgehe. Ich kann seit Tagen an nichts außer an das Kind, an Fehl- und Totgeburt denken. Die Vorlesungen habe ich geschwänzt und war nur bei den Blockpraktika wirklich aufmerksam. Jessica weiß von meinem Schicksal Bescheid und hilft mir, hat mir auch angeboten mit Celine zu reden, was ich auch nicht abschlagen werde. Sollte ich es den Mädchen erzählen? Ich weiß nicht so recht. Ich schlinge meine Arme um Cans Nacken. Ich will so viele Liebkosungen wie es nur geht, bevor das Kind ausgeschabt wird. Trotz dessen, dass mein Kind nicht mehr lebt, will ich, dass es trotzdem Liebe bekommt. Liebe, die ich dem Kind nicht geben konnte. Sollte ich mich jetzt schon fertig machen? Ich werde sowieso nicht weiterschlafen. Langsam befreie ich mich aus Cans Armen, nehme mir frische Sachen und laufe ins Bad. Ich will die Ausschabung irgendwie nicht, aber ich will es auch schnell hinter mir haben. Lustlos befreie ich mich aus meiner Kleidung, setze mich in die Wanne und lasse einfach das warme Wasser auf mich prasseln, rasiere mich schnell, putze mir die Zähne und bleibe dann einfach in der Wanne liegen.

Die Zeit soll so langsam wie möglich vergehen. Die ganze Zeit fahre ich mir über meinen Bauch, rede innerlich mit meinem verstorbenen Kind. Was wäre das Lieblingsessen meines Kindes? Hätte es Kartoffeln auch so sehr gemocht, wie ich? Ich bin verdammt desperat. "Hey", höre ich seine sanfte Stimme. Er hebt meinen Kopf an, legt seine Hand auf meine Schläfe. "Lehn dich nicht gegen dagegen, das wird deinem Hals wehtun." Can setzt mich auf, küsst meine Schulter. "Sei nicht traurig, es ist schwer, ich weiß, aber es gibt immer ein zweites Mal. Ich bin für dich da." Sanft massiert er meine Schultern. Tief atme ich durch. "Es ist einfach nur so schockierend. Denkst du, das Kind hat gelitten?" Can seufzt. "Ich weiß es nicht." Tröstend fährt er mir über meine Arme. "Du hast doch selber gesagt, dass unser Kind jetzt an einem besseren Ort ist." Ich nicke zerknirscht. Ich kann es immer noch nicht realisieren. "Hast du dir schon die Haare gewaschen?" Ich verneine es. Can greift nach dem Shampoo und massiert es in meine Kopfhaut ein. Nebenbei redet er beruhigend auf mich ein. "Nach der OP bleiben wir einige Stunden dort und dann ruhst du dich aus, okay?" Ich nicke. Er schamponiert mein Haar wieder, ehe er es kämmt und Spülung in die Längen gibt. Ich will nicht aufstehen, ich will im warmen Wasser bleiben. Ich habe keine Lust mich zu bewegen, ich habe keine Lust aus dem Wasser zu steigen, ich habe keine Lust zur Praxis zu fahren, ich will einfach nur im Bett liegen. Sanft fährt Can mit dem Schwamm über meinen Körper, schon fast hauchzart über meinen Bauch. Ich will nicht mehr daran denken, aber es hat sich in meinem Kopf verankert. Wieso habe ich Totgeburt verstanden? Sicher, dass sie sich nicht einfach nur versprochen hat? Das kann doch nur ein Zeichen sein, ich kann es mir nicht anders erklären.

AkzeptanzWhere stories live. Discover now