Kapitel 101

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Madilyn Bailey - Elastic Heart

Der Tag danach. Ich stehe auf, fühle mich so leer. Es ist schon 13:02 Uhr. Ich habe sehr lange geschlafen. Lange, weil ich diesen Frust nicht abbauen kann. Gestern ist es passiert. Ich weiß nichts. Ich weiß gar nichts. Ich bin in irgendeine andere Zeit zurückgeschleudert worden. Mein Mann hat etwas Schlimmes begangen, aber was soll ich daran jetzt ändern? Ich konnte ihn nicht abhalten. Ich konnte gar nichts und jetzt kann ich auch nichts. Was soll ich großartig machen? Ich bin einfach nur kaputt. Ich kann und will mich nicht bewegen. Mein Körper ist mir gerade eine Last. Wo ist er? Ist er weg? Redet er mit Shevin? Wie wird sie reagieren? Er soll sich diesen Tumor entfernen lassen. Ich will ebenfalls mit ihr reden. Ich will die Scheidungspapiere. Anders lernt Can es nicht. Aber andererseits weiß ich nicht, wie er sich jetzt verhalten will. Jetzt, nachdem er seinen Plan in die Tat umgesetzt hat. Ich bin verwirrt und denke zu gleich gar nicht. Ich bin mental an einem Tiefpunkt, wo ich mich schwer festhalten kann. Ich habe schon tote Menschen gesehen - ich habe sie sogar untersucht und seziert -, aber bei einem versuchten Mord dabei zu sein und diese Angst zu spüren, das ist ein anderes Niveau. Ein Niveau, was mich einfach komplett sprachlos gemacht und auch meine Rationalität behindert hat. Es hat einen großen Teil meines Denkens behindert. Ich hätte mehr machen können. Ich hätte Can einfach die Waffe aus der Hand schlagen können oder sonstiges, aber durch diesen Schock und diese Panik war ich zu verwirrt und überfordert. Mir fallen so viele Situationen gerade ein, die ich hätte tun können und mir fallen so viele Wörter gerade ein, die ich hätte sagen können. Und wer weiß? Vielleicht hätte Can nicht geschossen. Wo genau hat er getroffen? Hat er eine Vene getroffen? Was ist jetzt mit Soufian? Ist er jetzt tot? Gott bewahre ihn davor. Ich hasse ihn, ich verabscheue ihn, aber dieses Anschießen... ich kann es nicht in Worte fassen. Ich kann gerade nichts. Der Schock sitzt zu tief, breitet jetzt vielleicht noch mehr aus, weil ich weiter darüber nachdenke. Ein Wunder, dass ich gestern noch einige Sätze von mir geben konnte.

Ich habe gestern die starke Widersprüchlichkeit meiner gefunden. Trotz alldem, habe ich Can bei mir gelassen. Trotz seiner Tat, durfte er mich in den Arm nehmen. Vielleicht weil meine opportunistische Seite Trost wollte, damit ich nicht komplett versage, vielleicht aber auch, weil ich einfach keine Kraft mehr besitze und diese einseitige Umarmung einfach hingenommen habe. Dieses ständige Wehren... ich fühle mich langsam abgehärtet. Was habe ich nicht erlebt? Wie hoch ist das Kontingent meines Leids? Can meint es nur gut, aber seine Tat kann und werde ich nicht gut reden. Can ist ein verwirrter Mann, der etwas - aus seiner Sicht - Richtiges macht, es aber nicht der Fall ist. Ein Beispiel wäre die Ohrfeige an Aleyna. Sie hat eine Strafe verdient, aber... ich weiß auch hier nicht so ganz, was ich sagen soll. Sonst finde ich doch für alles Worte. Ich frage mich, was hätte ich tun können? Nichts. Das ist die Antwort. Ich konnte nichts tun. Can war so fokussiert auf sein Ziel. Mein Flehen hat nichts gebracht, er hat schnell abgeblockt, damit er nicht auf andere - gute - Gedanken kommt. Und auch danach konnte ich nichts machen. Ich konnte nicht einmal alleine zum Auto, weil sich alles gedreht hat. Was hätte ich großes tun sollen? Es hätte nichts an seiner Tat geändert, sondern meine Psyche womöglich mit noch mehr Stress belastet und das wollte mir mein Unterbewusstsein nicht antun - dem ich dankbar bin. Ich habe schon Kopfschmerzen von diesem Tumult. Mein Schreien hätte nichts gebracht und auch Schläge gegen ihn hätten nichts gebracht, nachdem Can ihn angeschossen hat. Ich hätte Dinge sagen können, bevor der Schuss auf Soufian zielte, aber mir kam in der Situation nichts davon in den Sinn - ich mache mir deswegen auch keine Vorwürfe, das wäre dumm. Geht es mir besser? Ich weiß es nicht. Mein Mann ist wahrscheinlich ein Mörder - auch, wenn er es mir zu Liebe gemacht hat. Ich will nicht alles schwarz reden, denn das tut mir nicht gut. Can hat aus Affekt gehandelt, weil er mich beschützen wollte. Das erscheint mir schmeichelnd, aber die Tat ist erschreckend. Ich müsste eigentlich Angst vor Can haben, ihn als Monster ansehen und ihn verachten, aber trotz allem liebe ich ihn. Wie faszinierend die Liebe doch ist, so bedingungslos. Ich liebe Can, kann aber nicht alle seine Taten akzeptieren. Trotz gestern hat er ein gutes Herz. Er ist nur etwas gestört, das kann man auch nicht dementieren. Can nimmt die Dinge anders war, weil er durch vieles beeinflusst wurde. Es wäre mehr als nur dumm, wenn ich mich deswegen scheiden lasse. Can hat es nur gut gemeint - auch, wenn es schlecht war. Ich werde mich ganz sicherlich nicht scheiden lassen, weil mein Mann jemanden umbringen wollte, der mich umbringen wollte. Das wäre dumm und dämlich, weil er mich nur auf übertriebene Art und Weise schützen wollte. Natürlich hätte er anders handeln können, aber das hat er nicht und ändern kann niemand etwas am Geschehenem. Und am Ende schneide ich mich nur selber, wenn ich mich von ihm trenne. Was dann mit ihm passiert, will ich mir nicht einmal vorstellen. Es wäre ein Schritt in das Verderben. Ich werde trotzdem die Scheidungspapiere anfordern. Ich muss nur wieder etwas in Fassung kommen.

AkzeptanzWhere stories live. Discover now