36. Kapitel

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„Bis heute Mittag, ihr Süßen!", grinste unsere Mutter, während wir aus ihrem Auto ausstiegen, „Habt einen tollen Tag!"

Schweigend schmiss ich nur die Tür des Autos zu und schulterte meinen schwarzen Vans-Rucksack. Mit einem genervten Seufzer zog ich mir die Kapuze meines Hoodies noch tiefer ins Gesicht und schleifte mich auf den Schulhof.

„Jetzt zieh nicht so eine Miene, Camilla", strahlte Lucie. Als sie jedoch ihre Freunde sah, meinte sie nur noch, „Pass auf, dass dich niemand entführt!", und verschwand.

Da stand ich nun. In meiner Schule, völlig allein, da meine beste Freundin erschossen worden war. Wegen mir!

„Gott, ist das alles scheiße hier!", murmelte ich in mich hinein und lief zu meinem Klassenraum. Jedenfalls hoffte ich, dass es noch meiner war, denn dieser war es vor meiner Entführung gewesen.

Ich vergrub eine Hand in der Bauchtasche meines Pullis und betätigte die Türklinke. Es war zehn vor acht, also konnte ich noch nicht zu spät sein.

Unbemerkt trat ich in den Klassenraum, lehnte mich an die Fensterbank und starrte auf den Boden. Vielleicht würde mich niemand bemerk-

„Camilla?"

Das ist wohl nichts geworden!

Seufzend sah ich in das Gesicht, welches mich blöd angrinste, „Hi"

„Mein Gott, wieso bist du denn hier?", das Mädchen, welches mich angesprochen hatte, hieß Sara. Ich war mit ihr in der Grundschule gut befreundet gewesen. Ab dem Gymnasium hatten wir uns auseinander gelebt, obwohl wir die ganze Zeit in der selben Klasse blieben.

„I-Ich bin zurück!", antwortete ich leise und stütze meine Hände auf der Fensterbank ab.

„Also ich freue mich, aber wieso denn? Du warst vier, vielleicht sogar fünf, Monate einfach verschwunden, und hast auf keine einzige Nachricht geantwortet", verwirrt fuhr sich Sara durch die Haare, „Die Lehrer schwiegen, und seit deinem Verschwinden sind die Katholiken unserer Klasse völlig aufgelöst."

„E-Es...es ist kompliziert", versicherte ich, und wollte mich auf einen Platz begeben, als ein weiterer Schüler zu mir kam. Und danach noch einer, bis sich die ganze Klasse um mich versammelt hatte.

„Hey, Camilla, bist du es?"

„Camilla ist hier?"

„Krass! Und ich dachte sie ist gestorben!"

„Seit wann ist Camilla wieder hier?"

„Wieso sollte sie da sein? Sie war ein halbes Jahr weg!"

„Viereinhalb Monate!"

„Ist doch das selbe."

„Lasst sie ihn Frieden!", brüllte auf einmal jemand, und alle verstummten, „Sie will offensichtlich in Ruhe gelassen werden, ALSO VERSCHWINDET ODER ICH SCHLAGE EURE KÖPFE EIN!"

Jeder einzelne Schüler verschwand, und Lucie kam auf mich zu. Sie hatte augenscheinlich meinen Klassenkameraden gedroht. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie das freiwillig machte, denn so war sie nie. Niemals hätte sie sich aus eigenem Willen in meine Klasse gewagt, welche voller jüngerer, ätzender Schüler war!

„Geht es dir gut?", fragte sie leicht überfordert, und ich nickte nur, „Soll ich dir etwas bringen. Ich meine, ich könnte dir irgendetwas zu essen holen, oder-"

„Hey, Lucie!", sie verstummte, „Ich weiß es zu schätzen, dass du mir hilfst, obwohl ich nicht glaube, dass du es aus freien Stücken tust, aber ich komme alleine klar. Geh zu deinen Freunden, und mach dir um mich keine Sorgen!"

Damit nahm sie ihre Tasche und lief aus dem Raum. Ich zog mir die Kapuze noch tiefer ins Gesicht und trottete auf irgendeinen, freien Platz zu.

„Du bist also Camilla?", ich drehte meinen Kopf zu meinem neuen Sitznachbarn, „Ich bin Elias", er hatte honigblonde, volle Haare, welche leicht gelockt waren, und seine Augen strahlten schokoladenbraun. Er war etwas größer als ich und wirkte sportlich.

„Freut mich, Elias", antwortete ich nur, und sah mich um. Die meisten Schüler bewegten sich nun zu ihren Plätzen.

„Ich bin erst seit ein paar Monaten hier", versuchte der Junge neben mir ein Gespräch aufzubauen, „Allerdings scheint hier fast jeder nett zu sein. Mir wurde vorgeworfen, dass ich die meisten Mädchen enttäuscht habe, da ich schwul bin, aber ich fühle mich nicht wirklich schuldig. Sollte ich das? Ich habe keine Ahnung, da ich bis vor kurzen noch in einem ganz anderen Teil Deutschlands gelebt haben, wo ich auf eine Schule volle Arschlöcher ging..."

„Hör mir mal zu", schnauzte ich, „Deine Lebensgeschichte ist mir, um ehrlich zu sein, scheiß egal. Ich bin hier, weil meine Mutter mich gezwungen hat, nicht weil ich so wild darauf bin. Und sind wir hier mal ganz ehrlich, dein Leben wirkt auf mich relativ gut. Ich meine, ich wurde entführt, von einem ehemaligen Auftragskiller und definitiven Psychopathen. Außerdem wurde ich von Renn diesem vergewaltigt, und mehrere Wochen, vielleicht sogar deutlich länger, in einen kalten Kellerraum eingesperrt. Dabei habe ich jeden zweiten Tag Angst gehabt ermordet zu werden, weil um mich herum Leichen von jungen - frisch ermordeten - Männer lagen, welche riesige Maschinengewehre mit sich trugen, und meine einzig akzeptable Gesellschaft war ein dreißigjähriger, schwuler Junkie, der mir Alkohol verabreicht hatte, indem er mir den in meinen Tee geschüttet hatte. Also, klingt dein Leben immer noch so scheiße, oder geht's jetzt besser?"

Geschockt sah uns die ganze Klasse an, und ich realisierte, was ich getan hatte. Ich hatte meiner Klasse erzählt was passiert war, obwohl ich mir gestern noch geschworen hatte, nichts zu erzählen, und einfach zu sagen es sei kompliziert.

Das hatte offensichtlich funktioniert.

„Das tut mir leid!", erwiderte Elias neben mir, und ich war so kurz davor diesem fremden Jungen eine zu klatschten, „Kann ich etwas für dich tun?"

„JA", brüllte ich ihn sehr gereizt an, „HALT DEINE GOTTVERDAMMTE FRESSEN UND LASS MICH EINFACH IN FRIEDEN!!!!!"


Ich weiß noch nicht, was ich von Elias halten soll. Vielleicht wird er nett, vielleicht wird er beschissen, da müssen sich meine paar Gehirnzellen noch drauf einigen...

Entführt von einem Hargreeves || Teil 1Where stories live. Discover now