30. Noblesse oblige [2]

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Karel ließ seine Waffe fallen, als hätte sie sich urplötzlich in ein giftiges Insekt verwandelt. Dann machte er es seiner Schwester nach und sank auf die Knie.

»Woher wusstest du es?«, fragte die Prinzessin in Gestalt des Phantoms.

»Es war die einzige Möglichkeit«, antwortete Emma schlicht.

Die Prinzessin seufzte schwer. »Ich wünschte, du wärst schon viel früher hier aufgetaucht.« Sie schien hinter ihrer Maske zu lächeln. »Andererseits ... welchen besseren Zeitpunkt könnte es geben als den letzten Kampf der Morgenwind?«

Emma schüttelte den Kopf. »Mit Verlaub, Euer Hoheit, aber die letzte Person, die vom Untergang der Morgenwind gesprochen hat, musste kurz darauf ziemlich schnell Reißaus nehmen.« Sie stemmte die Hände in die Hüften, so wie es ihre Mutter immer machte, wenn sie ihr und ihrer Schwester eine Ansprache hielt. »In meiner Welt heißt es nicht umsonst: Es ist erst vorbei, wenn es vorbei ist. Also sollten wir uns jetzt diesen Megamon vorknöpfen. Danach können wir immer noch in Hoffnungslosigkeit verfallen!«

»Gut gesprochen«, erwiderte die Prinzessin und forderte die jungen Adeligen auf, sich zu erheben. »Nach all den Jahrhunderten fühlt es sich seltsam an«, erklärte sie, wischte Klarissa das Blut aus dem Gesicht und gab Karel seine Waffe zurück. »Und jetzt folgt mir. Der Prinz der Megamon wird sicher nicht leicht aufgeben.«

»Der Prinz der Megamon?«, wiederholte Karel.

»Er hat keinen Namen«, erwiderte Prinzessin Oleanne. »Jedenfalls keinen, der sich aussprechen ließe. »Ihr habt ihn bereits kennengelernt.«

Der große Megamon, dachte Emma, während sie der Prinzessin und den zwei Adeligen den Hügel hinauf zur Villa Rosso folgte.

»Die Fee und der Einäscherer haben ihn geschwächt, aber wir sollten ihn trotzdem nicht unterschätzen.« Bei diesen Worten fasste die Prinzessin ihr Schwert fester und Emma bereute nun doch, dass sie ihr Messer im Schloss zurückgelassen hatte.



*



An der Villa angekommen, schlichen sie an den sturmgepeitschten Rosenhecken entlang und versuchten, durch die Fenster ins Innere des Anwesens zu spähen. Doch hinter den Scheiben war es stockdunkel, sodass sie nur die Spiegelung des grauen Himmels erkennen konnten.

»Ich hab kein gutes Gefühl bei der Sache«, bemerkte Emma, als sie nach erfolgreicher Umrundung des Gebäudes unter dem Säulenvorbau des Eingangs zur Lagebesprechung zusammenkamen.

»Am besten teilen wir uns auf«, meinte die Prinzessin. »Ich klettere aufs Dach und steige von oben ein. Ihr nehmt den normalen Weg durch die Tür.«

»Das ist eine gute Idee«, sagte Karel sofort. »Auf diese Weise sitzt er in der Falle und wir können ihn in die Zange nehmen.«

Emma war sich nicht sicher, ob es in ihrer Macht lag, einen Prinz der Megamon einfach so in die Zange zu nehmen, aber da sie keine bessere Idee hatte, stimmte sie dem Vorschlag zu.

»Ich kann dir helfen«, bot Karel diensteifrig an und formte mit den Händen eine Räuberleiter, um der Prinzessin den Anfang ihrer Kletterpartie zu erleichtern.

Sie schob ihn mit sanfter Gewalt zur Seite, sprang mit einem Satz an die glatte Mauer, stieß sich ab und landete mit einem gekonnten Sprung auf dem Vordach. Von dort aus kletterte sie flink wie ein Eichhörnchen über die Ausbuchtungen und Gesimse der Fenster bis hinauf zum Dachgiebel. Karel sah ihr mit offenstehendem Mund nach.

Morgenwind - die fliegende Stadt [Buch 1]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt