29. Die Bestimmung [1]

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Emma träumte schon wieder.

Sie wusste es, als sie Savannah erblickte, die am Eingang von Schloss Baronstett auf sie wartete.

Savannah trug eine bodenlange, feuerrote Robe und sah darin unglaublich hübsch und elegant aus. Rasputin, der sich an ihrer Seite und gleichzeitig im Hintergrund hielt, wie die unbekannten Männer, die ihre wunderschönen Schauspieler-Ehegattinnen auf den roten Teppich begleiteten, konnte den Blick kaum von ihr abwenden.

»Es tut gut, dich zu sehen«, sagte Emma, aber Savannah lächelte nur wie eine Sphinx. Dann bedeutete sie Emma, ihr zu folgen, und führte sie durch die Eingangshalle und den Salon bis zum Thronsaal. Dort nahm sie Emmas Hände, so wie Kilian ihre Hände genommen und gedrückt hatte, doch diesmal spürte Emma keine Wärme, denn Savannahs Haut war eiskalt. »Geh«, sagte sie. »Finde sie.«

»Wen soll ich finden?«, erwiderte Emma.

Noch ehe Savannah darauf antworten konnte, öffneten sich Flügeltüren zum Thronsaal und Emma sah sich der Prinzessin gegenüber. Majestätisch thronte sie auf dem königlichen Stuhl, der dem Baron von Morgen vorbehalten war. Die schneeweiße Robe, die ihren ganzen Körper verhüllte, ergoss sich kaskadenartig über die Stuhllehne und den edlen Dielenboden. Der Raum um Emma und die Prinzessin herum schien zu schrumpfen, aber vielleicht war es auch die Prinzessin, die sich ausbreitete. Ihr Gewand bewegte sich, wehte und waberte wie eine Fata Morgana.

»Was willst du?«, fragte Emma. Als die Prinzessin darauf nicht reagierte, trat Emma vorsichtig näher. Ihre Bewegungen waren langsam. Viel zu langsam. Sie kam sich vor, als würde sie sich in Zeitlupe bewegen. Irgendetwas wollte sie zurückhalten, doch Emma kämpfte erfolgreich dagegen an. Am Thron angekommen, streckte sie die Hand nach dem Schleier der Prinzessin aus.

Ein schriller Schrei ertönte, das durchdringende Heulen eines Megamon. Gleichzeitig lüftete sich der Schleier und offenbarte eine Fratze, die Emma inzwischen ziemlich bekannt vorkam. Ein Ruck ging durch die wabernde Gestalt der Prinzessin und ihr flatterndes Gewand verwandelte sich in eine Rüstung aus Metall, mit Tentakeln aus gewundenem Draht, quietschenden Scharnieren und giftigem Dampf, der aus den Nähten und Ritzen zischte.

Emma wich vor dem Ungetüm zurück, das sich direkt vor ihr zu voller Größe aufrichtete. Eine wild durch die Luft peitschenden Tentakel streifte ihre Wange und hinterließ darauf ein schmerzhaftes Brennen. »Was hat das zu bedeuten?«, rief sie. »Ich verstehe das nicht!«

»Finde sie.«

Emma fuhr herum. Savannah und Rasputin standen direkt hinter ihr.

»Finde sie«, wiederholte Savannah. Dann schien sie sich ebenfalls zu verwandeln. Ihr Körper bekam eine Hülle aus flüssigem Kupfer. Die Haare umschwirrten ihren Kopf wie die Schlangen der Medusa. Ihre Augen nahmen Farbe und Form von Fahrradreflektoren an. Sie fasste Emma mit ihren Metall-Klauen an den Schultern. »Finde sie, Emma. Du bist die Einzige, die es tun kann. Finde mich. Und dann finde sie.«

Die Reflektoren blitzten auf, als wären sie von einem grellen Licht gestreift worden. Emma wandte den Kopf ab und blinzelte.



*



Als Emma die Augen wieder öffnete, saß sie aufrecht im Bett. Der Schein einer Öllampe flackerte und warf verzerrte Schatten an die Wände von Kilians Schlafzimmer. Sie spürte kalten Schweiß auf ihrer Stirn, einen dumpfen Schmerz in ihrem Gesicht und eine warme Hand auf ihrem Rücken.

»Was hast du?«, fragte Kilian.

Emma drehte sich zu ihm um. »Nichts. Nur ein Albtraum.«

»Du träumst bestimmt von Megamon«, meinte Kilian. Seine Hand wanderte langsam zu ihren Schultern. Emma gab ihrem sanften Druck nach und ließ sich wieder gegen seine Brust sinken. »Wir träumen alle von ihnen. Seltsame Träume gehören zum Leben auf der Morgenwind dazu.«

Morgenwind - die fliegende Stadt [Buch 1]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt