15. Das Lebkuchenhaus [2]

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Am Stadttor von Regenfurt wurde sie bereits von Miragel erwartet. Bei ihm war ein Mann mit einer altmodischen Topffrisur und einer dicken Brille auf der Nase. Emma erinnerte sich daran, dass er Sebastian hieß und so etwas wie der Priester der Stadt war.

»-F-fluss überquert«, sagte er gerade. Dann hielt er inne und wartete, bis Emma ihr Pferd zum Stehen gebracht hatte. »Ich bin mir s-sicher, dass s-sie es war«, fügte er schließlich hinzu.

»Sie hat den Fluss überquert?«, wiederholte Miragel und setzte sich im Sattel zurecht. »Dann gibt es nur einen Ort, an den sie gegangen sein könnte.«

»Was ist das für ein Ort?«, fragte Emma.

Miragel zog eine Grimasse. »Der Gewitterfels.«

Sebastian trat an Emmas Seite und reichte ihr die Hand. »Ich bin übrigens S-Sebastian. Ich glaube, wir hatten noch nicht das V-V-Vergnügen.«

»Emma. Freut mich, dich kennenzulernen«, sagte Emma, auch wenn sie keine Zeit mit Begrüßungsfloskeln vertrödeln wollte.

Der Priester lächelte. »Es ist immer s-schön, neue Gesichter zu sehen. Leute, die meine W-Witze noch nicht kennen.«

»Deine Witze?«

Sebastians Augen hinter den dicken Brillengläsern funkelten voll Begeisterung. »Ja, genau.« Er runzelte die Stirn und stotterte: »Z-zum Beispiel: Z-zwei Z-Zwerge... gehen in die Taverne ...«

»Dafür ist jetzt wirklich keine Zeit«, grollte Miragel. »Kommt mit, Emma.« Er wendete sein Pferd und ließ es ohne Rücksicht auf Karren und Passanten in die Stadt galoppieren.

Emma warf dem Priester einen entschuldigenden Blick zu und folgte dem Elf. Mit jedem Meter, den sie auf dem Pferderücken zurücklegte, gewann sie an Sicherheit und schon bald fiel es ihr nicht mehr schwer, mit Miragel mitzuhalten. Sie folgten der Hauptstraße Regenfurts bis zum anderen Ende der Stadt. Dort überquerten sie den Fluss und galoppierten weiter in südliche Richtung. Die Straße führte sie an einem Wald vorbei, dessen Bäume so dicht standen, dass es unter seinem Blätterdach beinahe völlig dunkel sein musste. Das Laub der Bäume hatte eine ungewöhnliche, dunkelblaue Färbung. Rehe grasten am Waldrand und hoben die Köpfe, als Emma und Miragel vorbeipreschten. Kurz darauf gelangten sie an einen kristallklaren See, der im Sonnenlicht glitzerte. An seinem Ufer lag eine verlassene Stadt mit Häusern, die aus Perlmutt gefertigt zu sein schienen.

»Mir nach!«, rief Miragel und lenkte sein Pferd von der Straße auf eine feuchte Wiese, die im Licht der Morgensonne zu dampfen schien. Emma beugte sich tief über den Hals der Stute und folgte ihm. Sie genoss es sehr, wieder auf dem Rücken eines Pferds zu sitzen.

Nach einigen Metern kamen sie an einem Luftabwehrgeschütz vorbei, das genauso aussah wie das Geschütz am Stadtrand von Regenfurt. Vielleicht ein wenig stärker verrostet. Dahinter begannen die Ausläufer eines Gebirges. Diese Berge waren nicht so malerisch wie die Zauberberge, die sie gestern bestaunt hatte. Ihre zerklüfteten Gipfel und engen Täler wirkten eher bedrohlich als idyllisch.

Miragel steuerte einen schmalen Pfad an, der zwischen stacheligen Büschen und trocken gelegten Gräben, in denen Drähte und Kabel verliefen, auf ein felsiges Plateau hinaufführte. Hier oben herrschte ein kühler Wind, der an Emmas Haaren und am Rock ihres Kleides zerrte. Instinktiv presste sie sich noch enger an den Hals des Pferdes.

Am anderen Ende des Plateaus, an eine steile Felswand gedrängt, stand ein kleines, krummes Haus mit pechschwarzen Dachschindeln und Mauern aus roten Tonziegeln. Rauch kam aus dem schiefen Schornstein und eine schwarze Katze hockte auf dem Dachfirst.

»Wo sind wir?«, wollte Emma wissen.

»Im Südwesten der Stadt. Etwas weiter westlich liegt der Gewitterfels«, antwortete Miragel, während er sich vom Pferd schwang. Als wären seine Worte ein geheimes Signal gewesen, ertönte in diesem Moment ein unheimlicher, gestaltloser Donner.

Morgenwind - die fliegende Stadt [Buch 1]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt