3. Jäger in der Nacht [1]

116 18 8
                                    

Als Emma erwachte, war es dunkel. Deswegen brauchte sie einen Moment, um sich zu orientieren. Schließlich musste sie entsetzt feststellen, dass sie sich noch immer im Burgfräulein-Zimmer des Schlosses Baronstett befand. Außer dem Hereinbrechen der Nacht hatte sich überhaupt nichts verändert.

Ohne auf ihre protestierenden Glieder zu achten, schwang sie die Beine vom Bett und stürzte zum Fenster. Sie brauchte beide Hände und eine Menge Kraft, um es aufzustoßen. Ihr Zimmer befand sich im ersten Stock. Trotzdem war es ziemlich weit bis zum Erdboden.

»Nur die Ruhe«, murmelte Emma, um sich selbst Mut zu machen. Dann versuchte sie, die Tür zu ihrem Zimmer zu öffnen, doch der Riegel saß bombenfest. »Mist!«, zischte sie und wandte sich wieder dem Fenster zu. Selbst im Dunkeln konnte sie erahnen, dass ein Sprung aus dieser Höhe kein gutes Ende nehmen würde. Und einfach so auf Gott oder ihr Glück vertrauen, wollte sie auch nicht.

Sie lehnte sich aus dem Fenster und bemerkte die Efeuranken, die den Turm fest umwickelt hatten. Einige der Streben waren dick wie Schiffstaue. Emma war nicht unbedingt eine Elfe, aber sie schätzte, dass die Pflanze ihr Gewicht tragen konnte. Vorsichtig umfasste sie die Ranken und zog daran. Das Gewächs gab nicht nach.

Emma hielt für einen Moment inne und horchte in sich hinein, um herauszufinden, ob sie dabei war, etwas total Bescheuertes zu tun. Dann dachte sie an ihr Zuhause und daran, wie sehr sie ihre Couch und ihren Kühlschrank vermisste. Sie konnte sich nicht erklären, was es mit Kilian, Kamilla und den Megamon auf sich hatte, aber sie wusste, dass sie so schnell wie möglich in ihre Welt zurückkehren wollte. Und wenn sie sich nicht dazu zwingen konnte, aufzuwachen, dann musste sie eben auf andere Mittel zurückgreifen.

Mit einer entschlossenen Bewegung zog sie sich auf das Fensterbrett und fasste nach den Ranken. Zum Glück war die Außenmauer des Turms nur unzureichend verputzt, sodass es ihr beinahe mühelos gelang, Spalten und Ritzen für ihre Füße zu finden. Während sie sich an den Abstieg machte, dankte sie in Gedanken ihrer besten Freundin, die sie einen ganzen Monat lang fast jeden Abend in die Kletterhalle geschleppt hatte. Und das nur, weil sie ein Auge auf den Kletterlehrer geworfen hatte.

Ein kühler Wind kam auf und Emma presste sich flach an die Mauer. Efeublätter streiften ihr Gesicht und kitzelten sie an der Nase.

Etwa anderthalb Meter über dem Boden entschloss sie sich, zu springen. Sie landete in der Hocke und blieb in dieser Position, bis sie sich vergewissert hatte, dass niemand kam, um sie an den Haaren zurück ins Schloss zu zerren.

Anschließend umrundete sie den Turm und kauerte sich in den Schutz eines Unterstands, der zum Lagern von Holzscheiten vorgesehen war. Noch immer wurde das Schlossportal von zwei Wachposten flankiert. An ihren Hellebarden hingen kleine Laternen, die ein ominöses Licht spendeten. Emma lachte in sich hinein. So leicht hatte sie sich ihre Flucht gar nicht vorgestellt.

Die Wachen aus den Augenwinkeln beobachtend, flüchtete sie sich in die Schatten abseits der Straße. Das Licht blieb hinter ihr zurück und schon bald wurde sie von einer Dunkelheit eingehüllt, wie sie sie von Zuhause nicht kannte. Der Vollmond war halb hinter Wolkenschleiern verborgen, doch die Sterne funkelten dafür umso heller. Und was für Sterne! Unzählige Sterne! Ein Ozean aus Sternen!

»Uah!«, keuchte Emma, als sie über einen Stein stolperte und ins Gras stürzte. »Bockmist!«, zischte sie. Der Fluch war das Markenzeichen ihrer Schwester, aber in Anbetracht der Umstände war es wohl in Ordnung, wenn sie sich an ihrem Vokabular bediente.

Sie wollte sich gerade wieder aufrichten, da vernahm sie das Geklapper von Pferdehufen.

Emma hob leicht den Kopf und beobachtete einen Reiter, der sich dem Schloss näherte. Seine blonden Haare und sein Mantel flatterten im Wind. Im ersten Moment dachte Emma, dass sie Kilian vor sich hätte, dann fiel ihr auf, wie viel kleiner und schmächtiger der Reiter war. Sie verfolgte ihn und sein nachtschwarzes Pferd mit Blicken, bis er aus ihrem Sichtfeld verschwand.

Morgenwind - die fliegende Stadt [Buch 1]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt