9. Die Last der Verantwortung [1]

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Emma trat an Derrick vorbei und öffnete die Tür. Dahinter lag eine große Halle, die wie ein Abfluss geformt war. Der Boden im Zentrum der Halle und auch die Decke über ihren Köpfen bestanden aus einem engmaschigen Metallgitter. Wasserflecken hatten wellenartige Muster an die Wände gemalt. Alles war noch feuchter und rostiger als im Rest der Unterstadt.

Auf dem Boden, der sich zur Mitte der Halle hin neigte, hockten zahlreiche Menschen und Wesen. Alle redeten wild durcheinander. Es war wie bei einer Schulklasse, die auf ihren Lehrer wartete. Kilian und Kamilla standen im Zentrum der Halle und sprachen leise miteinander. Eigentlich war es Kamilla, die sprach. Kilian stand nur dabei und starrte mit düsterem Blick an die gegenüberliegende Wand. Karel und Klarissa saßen ganz in der Nähe ihrer Geschwister. Sie hatten die Köpfe zusammengesteckt und achteten kaum auf das Geschehen um sie herum.

»Komm mit«, sagte Derrick und zog Emma am Rand der Halle entlang.

Schließlich fanden sie einen freien Platz und setzten sich auf den abschüssigen Boden. Ein paar Meter weiter saßen Joseph und Laurent. Nach kurzem Schnuppern hatte Laurent ihre Anwesenheit bemerkt, drehte sich um und winkte ihnen zu. Emma erwiderte den Gruß.

»Was hat es eigentlich mit Joseph auf sich?«, fragte sie, während sie beobachtete, wie sich Joseph mit einem ihr unbekannten Mann in Zeichensprache unterhielt. Es war schon das zweite Mal, dass sie sah, wie Joseph mit den Händen kommunizierte.

»Joseph ist ein wenig blind und taub«, antwortete Derrick. »Als Kanonier gehört das zum Berufsrisiko«. Er nahm einen Schluck aus seinem Flachmann. »Normalerweise hört und sieht er ganz gut, aber wenn es um ihn herum sehr hell oder sehr laut ist, versagen seine Sinne.« Derrick deutete mit einem Kopfnicken auf Josephs Gesprächspartner. Der Mann war von schmächtiger Statur und wirkte rundherum unauffällig. Mit seiner Topf-Frisur und der dicken Brille erinnerte er Emma an ein Bild ihres Vaters aus den 70er Jahren. »Das ist Sebastian«, erklärte Derrick. »Er ist so etwas wie unser Geistlicher.«

»Du meinst, ein Priester?«

»Nein«, antwortete Derrick und nahm einen weiteren Schluck. »Jedenfalls nicht nur. Er ist gleichzeitig auch Pfarrer, Rabbi, Imam ... eben ein geistlicher Lehrer für alle Lebens- und Glaubenslagen.«

»Weil es auf der Morgenwind so viele verschiedene Gläubige gibt?«

Derrick klopfte ihr auf die Schulter. »Ganz genau. Sieh dich doch einfach mal um.« Er deutete auf Savannah und Rasputin, die am gegenüberliegenden Ende der Halle auf dem Boden hockten. Savannah wiegte ihr schlafendes Kind im Arm. Rasputin unterhielt sich mit einer etwas molligen Frau, die in eine weiße Toga gehüllt war. »Savannah ist Mormonin«, sagte Derrick. »Rasputin ist katholisch.«

»Er ist ein Dämon«, grollte Emma.

»Nun, er nimmt das mit der Religion eben sehr ernst«, erwiderte Derrick. »Du wärst vermutlich überrascht.«

Emma schnaubte. »Oh ja, besonders das sechste Gebot. Das nimmt er sehr ernst.«

»Wie gesagt«, seufzte Derrick. »Du wärst wahrscheinlich überrascht.« Dann deutete er auf die Frau in der Toga. »Das ist Lusine, ein Wassergeist. Sie glaubt an die alten Götter ihrer Zeit.«

Derricks Blick wanderte zu einer asiatisch aussehenden Frau, die Emma als Masumi aus der Boutique wiedererkannte. Neben ihr saß Belle, die noch genauso puppenhaft aussah, wie bei ihrer ersten Begegnung. »Masumi glaubt an alle möglichen Naturgottheiten oder Kami

Neben Belle hockte ein kleiner, bärtiger Mann, eher ein Zwerg, der mehrere funkelnde Goldketten um den Hals trug. Auf seinem Kopf saß eine Kappe, die er verkehrt herum aufgesetzt hatte. »Das ist Harrod. Er glaubt an Gold und Edelsteine. Und an 2Pac.«

Morgenwind - die fliegende Stadt [Buch 1]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt