12. Mein Lehrer, der Werwolf [2]

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»Nur die Barone von Morgen kennen die Sprache der Morgenwind und können mit der Morgena kommunizieren. Das ist eine Gabe, die von Generation zu Generation weitervererbt wird«, erklärte Miragel.

»Und deswegen würden wir auch in ernste Schwierigkeiten geraten, wenn unseren vier Baronen etwas zustieße«, fügte Derrick hinzu und setzte den Flachmann an die Lippen. »Falls wir nicht bereits in ernsten Schwierigkeiten sind.«

»Es war noch nie so ernst wie jetzt«, sagte Miragel und trommelte erneut gedankenverloren mit den Fingern auf die Armstützen des Sessels.

»Aber die Morgenwind wird nicht untergehen«, piepste Titus vom anderen Ende der Halle.

Emma drehte sich zu ihm um.

Der junge Geflügelte hockte auf der Bank wie eine Taube, die es sich auf einem Ast gemütlich gemacht hatte. Sein zerzaustes Gefieder sträubte sich in alle Richtungen. »Ich erinnere mich nicht an viel aus meiner Zeit bei den Geflügelten, aber ich erinnere mich an die Legenden, die man sich über diese Stadt erzählte. Selbst unsere stärksten Krieger wagten es kaum, ihren Namen auszusprechen. Alle haben sie bewundert und gefürchtet.« Er zupfte sich eine Feder aus dem Flügel und drehte sie zwischen den Fingern. »Und deswegen kann die Morgenwind gar nicht untergehen.« Seine Worte klangen eher trotzig als überzeugt, aber das änderte nichts an ihrer starken Botschaft. Dennoch fiel es Emma schwer, sich vorzustellen, dass diese Stadt einst bewundert und gefürchtet worden war. Im Moment schienen ihre Bewohner allein ums nackte Überleben zu kämpfen.

Derrick lächelte. »Du hast Recht, Titus. So schnell lassen wir uns nicht unterkriegen.« Er prostete Miragel zu. »Nicht wahr, altes Spitzohr?«

»Das ist ziemlich beleidigend, weißt du das eigentlich?«, erwiderte Miragel finster.

»Du weißt doch, dass ich es nicht so meine«, gab Derrick zurück.

Laute Schritte näherten sich, dann polterte Hilde in das Kaminzimmer. Sie trug noch immer Rüstung und Schwert. Vermutlich hatte sie die halbe Nacht damit verbracht, die Stadt nach dem Megamon zu durchsuchen. Wortlos reichte ihr Derrick seinen Flachmann und sie nahm ein paar gierige Schlucke. Emma fragte sich, ob es sich bei der Flasche vielleicht um ein verzaubertes Gefäß handelte, das sich von alleine immer wieder auffüllte. Das hätte sie jedenfalls nicht mehr gewundert.

»Irgendwelche Ergebnisse?«, fragte Miragel.

»Nein«, antwortete Hilde und fuhr sich mit dem Unterarm über den Mund. »Nichts. Der Megamon und der Leuchtende sind verschwunden. Allerdings müssen wir noch die Häuser der Bewohner und einen Großteil des Untergrunds durchsuchen.«

Ihre Miene machte deutlich, wie wenig Begeisterung sie empfand. Emma konnte es ihr nicht verübeln. Es musste eine Heidenarbeit sein, den kompletten Untergrund zu durchkämmen. Und dann auch noch auf der Suche nach etwas, das seine Gestalt verändern konnte.

»Allerdings sind meinen Männern und mir einige Gerüchte zu Ohren gekommen.«

»Was für Gerüchte?«, fragte Miragel ungeduldig.

»Über den Brand.« Hilde blickte sich kurz um, als befürchtete sie, irgendjemand könnte sie belauschen. »Es heißt, einer unserer Stallburschen hätte Rasputin in der Nähe des Lagers gesehen. Kurz bevor das Feuer ausbrach.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass das etwas miteinander zu tun hat«, brummte Miragel. »Rasputin mag ja vieles sein, aber er ist kein Brandstifter. Und wenn er es getan hätte, dann wüsste inzwischen die ganze Stadt davon. Er liebt ja die dramatischen Auftritte.«

»Wo warst du eigentlich?«, fragte Derrick an Miragel gewandt. »Normalerweise wäre es dir doch nicht entgangen, wenn sich Fremde in der Nähe des Schlosses herumgetrieben hätten.«

Morgenwind - die fliegende Stadt [Buch 1]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt