4. Neue Freunde, alte Feinde [1]

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Dieses Mal war es mitten am Tag, als Emma im Burgfräulein-Zimmer aus dem Schlaf schreckte. Wie im Zerrspiegel hatte sie die Ereignisse der vergangenen Nacht im Traum noch einmal durchleben müssen.

Vorsichtig streckte sie die gedanklichen Fühler nach ihrem Rücken aus, um herauszufinden, wie es um ihre Verletzungen bestellt war. Wundersamerweise war der Schmerz fast vollständig verschwunden. Nur, wenn sie sich bewegte, konnte sie ihn noch spüren, ein dumpfes Pochen direkt hinter ihrer Lunge.

Ein schüchternes »Hallo« ließ sie ihren Rücken für einen Moment vergessen. Titus stand in der Tür. Sein vorwurfsvoller Blick weckte ihre noch schlummernden Schuldgefühle.

»Es tut mir leid, wenn ich dich in Schwierigkeiten gebracht habe«, beteuerte sie. »Das war nicht meine Absicht.«

Titus antwortete nicht, sondern starrte sie nur an. Aus seinem Gesicht sprach bodenlose Enttäuschung.

Emma nahm an, dass Miragel auf die Nachricht ihres Verschwindens nicht sehr erfreut reagiert hatte. Sie hoffte nur, dass Titus keinen allzu großen Ärger bekommen hatte. Schließlich war es in keiner Weise seine Schuld, dass sie aus dem Fenster geklettert und geflohen war.

Vorsichtig schlug Emma die Bettdecke zurück und setzte sich auf. Während sie geschlafen hatte, musste sich irgendjemand an ihren Kleidern zu schaffen gemacht haben. Jedenfalls trug sie nun ein langes, über und über mit Rüschen und Schleifen verziertes Nachthemd. Von ihrer Jeans und ihrer Bluse fehlte jede Spur.

»Wo ist Kilian?«, fragte Emma, da ihr das bedrückende Schweigen unangenehm wurde.

»Auf seinem Zimmer«, antwortete Titus. »Herr Kilian muss sich ausruhen. Der Schneidende zehrt an seinen Kräften. Außerdem hat er die halbe Nacht nach dir gesucht.«

Emma entging die Spitze in Titus' Worten nicht. »Der Schneidende? Ist das sein Schwert?«

Titus nickte, schien aber nicht gewillt, Emma mehr darüber zu erzählen.

»Und was ist mit Kamilla?«, fragte sie weiter.

»Sie muss sich ebenfalls noch ausruhen«, antwortete Titus. »Auf den vier Kindern des Barons lastet eine große Bürde.«

Die Worte klangen auswendig gelernt, doch noch bevor Emma weitere Fragen stellen konnte, betrat Miragel das Zimmer. Wie gestern trug er eine schlichte, aber elegante Robe. Heute bestand sie aus dunkelgrauem Stoff und war mit feinen, silbernen Stickereien verziert. Seine langen, schneeweißen Haare waren zu einem strengen Zopf geflochten, der den Blick auf zwei spitz zulaufende Ohren freigab. »Ich sehe, unser Burgfräulein ist aufgewacht«, bemerkte er spöttisch.

»Habe ich etwas verpasst?«, fragte Emma. Mit der Frage schien sie Miragel etwas den Wind aus den Segeln zu nehmen.

»Nein«, antwortete er nach kurzem Zögern. »Jedenfalls nichts, das einer Erwähnung bedürfte.« Er trat näher ans Bett und musterte Emma eingehend. »Es bereitet mir keine Freude das zu tun, aber Herr Kilian hat mir aufgetragen, mich nach Eurem Befinden zu erkundigen.«

»Ich bin in Ordnung«, sagte Emma schnell. Es gefiel ihr nicht, so angestarrt zu werden. Schon gar nicht von Miragel. »Wirklich. Mein Rücken tut kaum noch weh.«

»Ihr hattet wirklich großes Glück«, sagte Miragel. »Ein paar Meter weiter und Ihr wärt in den Abgrund gestürzt. Dann hätte Euch niemand mehr retten können. Nicht einmal Herr Kilian.«

Emma schloss die Augen und atmete tief durch. Sie war es leid, sich zu rechtfertigen. »Es tut mir leid«, erklärte sie zähneknirschend. »Aber ich bin es nicht gewohnt, eingesperrt und wie eine Gefangene behandelt zu werden.« Sie öffnete die Augen und blickte Miragel fest ins Gesicht. »Außerdem will ich so schnell wie möglich nach Hause.«

Morgenwind - die fliegende Stadt [Buch 1]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt