1. Späte Kundschaft [2]

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»Schneller!«, drängte Kamilla und sprang die Rolltreppe hoch, die zur zweiten Etage führte. Sie bewegte sich erstaunlich schnell auf ihren Stilettos. Masumi dagegen schien mit ihren unpraktischen Sandalen kaum Schritt halten zu können.

Unter ihnen ertönte ein lautes Krachen und Bersten. Emma machte den Fehler, stehenzubleiben und einen Blick über die Schulter zu werfen. Das Ding, zu dem Kilian geworden war, eine schnaufende und dampfende Maschine aus rostigem Stahl, mit rot glühenden Augen und scharfen Bohr-Armen, glitt um die Ecke einer Tapisserie. Vor dem hohen Weihnachtsbaum, der zwischen den Rolltreppen stand und stimmungsvoll funkelte, hielt die Kreatur inne.

Für einen Augenblick wirkte es, als würde sie vom festlichen Glanz geblendet, dann stieß sie ein furchtbares Heulen aus und fegte wie ein Wirbelwind die Rolltreppe hinauf.

Emma war so erschrocken, dass sie nicht einmal schreien konnte. Ohne Rücksicht zu nehmen oder darauf zu achten, welchen Weg sie einschlug, rannte sie los. Sie hörte, wie sich die Schritte der anderen Frauen entfernten, war aber zu ängstlich, um stehen zu bleiben oder umzukehren. Beinahe blind vor Panik rannte sie weiter, bis sie die Nische mit den Aufzügen erreichte. Dort kauerte sie sich hinter einen Blumenkübel und versuchte, sich absolut still zu verhalten.

Das Schnaufen der Maschine kam langsam näher. Emma verfluchte ihr Unglück. Wieso hatte sie sich von den Frauen getrennt? Und wieso musste die Maschine ausgerechnet sie verfolgen?

Den Atem anhaltend und leise betend, wartete sie auf das, was nun geschehen würde. Aus den Augenwinkeln konnte sie sehen, wie die Maschine über den Boden glitt und mit ihren glühenden Augen die Umgebung absuchte. Als sie Emma entdeckte, was ihr keinerlei Mühe zu bereiten schien, ließ sie erneut ein grauenhafte Heulen vernehmen und preschte los. Emma schrie.

Da stürzte plötzlich Kilian um die Ecke. In den Händen hielt er ein leuchtendes Schwert und schwang es mit einer geübten Bewegung nach dem Rumpf der Maschine. Mühelos durchtrennte die Klinge den rot-braunen Stahl. Mit einem schweren Klonk landete die obere Hälfte der Maschine auf dem Boden. Aus ihren Innereien tropfte eine grellgrüne Flüssigkeit, die dampfte und zischte wie Säure.

Kilian ließ seine Waffe verschwinden und reichte Emma die Hand, um ihr aufzuhelfen. Ihr Zögern ließ ihn innehalten. Beinahe zornig zog er seine Hand zurück.

Emma kauerte sich zusammen und schlang die Arme um die Beine. Sie wollte weinen, doch es gelang ihr nicht, auch nur eine einzige Träne zu vergießen.

»Das war ein Megamon«, erklärte Kilian mit gesenkter Stimme.

Emma reagierte nicht. Sie war noch zu sehr damit beschäftigt, die Ereignisse der vergangenen Minuten in die richtige Reihenfolge zu bringen. Außerdem haderte sie mit ihrer Entscheidung, an diesem Abend länger gearbeitet zu haben. Wäre sie nur fünf Minuten früher gegangen, dann wäre sie jetzt nicht hier, sondern auf einer ausgelassenen Party, zusammen mit ihrer besten Freundin und ihren neuen Schuhen.

Kilian ging vor ihr in die Hocke, packte sie an der Schulter und schüttelte sie so heftig, dass ihre Kiefer schmerzhaft aufeinander knallten. »Reiß dich zusammen«, befahl er. »Ein Megamon kommt niemals alleine. Also wenn du überleben willst, musst du jetzt aufstehen. Verstehst du das?«

Emma wich seinem Blick aus und musterte stattdessen seine Hände. Ein wenig Blut klebte an seiner linken Handfläche. Davon abgesehen, boten seine Hände einen beruhigenden Anblick. Sie waren kräftig, männlich und, viel wichtiger, besaßen fünf Finger auf jeder Seite.

Emma zögerte noch einen Moment, dann nickte sie zum Zeichen, dass sie ihn verstanden hatte. Kilian stand auf und wiederholte seine Geste. Diesmal nahm sie seine Hand an und ließ sich von ihm auf die Beine helfen.

Morgenwind - die fliegende Stadt [Buch 1]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt