12. Mein Lehrer, der Werwolf [1]

82 13 0
                                    

Am nächsten Morgen waren die Schmerzen so schlimm, dass Emma kaum aufstehen konnte. Zum Glück war Savannah zur Stelle, um ihr zu helfen. Sie stellte ein Glas Wasser neben das Bett und löste ein weißliches Pulver darin auf. »Keine Sorge«, beruhigte sie Emma. »Das ist ein Schmerzmittel aus der Apotheke. Derrick hat es beim letzten Einkauf aus der unteren Welt mitgebracht.«

»Danke«, murmelte Emma und rieb sich den Kopf. Ihre Wimpern waren verklebt und ihr Gesicht fühlte sich teigig und verquollen an. Savannah sah auch ziemlich mitgenommen aus. Vermutlich hatte sie in der Nacht kein Auge zugetan. »Woher wusste Rasputin eigentlich, dass Karel in Gefahr schwebt?«, fragte Emma, während sie die Flüssigkeit herunterkippte.

»Das wusste er nicht«, antwortete Savannah und setzte sich auf die Bettkante. »Er hat nur gespürt, dass ich Angst hatte. Deswegen ist er zum Schloss gekommen.«

Emma nahm einen letzten Schluck und stellte das Glas zurück. »Rasputin kann spüren, wie es dir geht?«

»Ja. Das mag verrückt klingen, aber er ist nun mal ein Dämon.« Savannah lächelte in sich hinein. Dann wechselte sie abrupt das Thema. »Wenn Miragel später Zeit hat, werde ich ihn bitten, nach dir zu sehen. Er besitzt zahlreiche Salben und Tinkturen, die dir helfen werden.«

Emma nickte. »Danke.« Zögernd ergänzte sie: »Und wie geht es Karel?« Es fiel ihr noch immer schwer, zu begreifen, was in der vergangenen Nacht geschehen war. Immerhin war sie Zeugin eines Mordanschlags geworden und hatte gesehen, wie ein Dämon die Seele aus dem Körper eines Jungen gesaugt hatte. Wortwörtlich gesaugt. Sie erschauderte bei der Erinnerung.

»Ich weiß es nicht genau«, antwortete Savannah. »Sie sind alle bei ihm. Rasputin auch. Er will sichergehen, dass alles gut geht, wenn sie ihn wieder aufwecken.«

»Dann gibt es ein Gegengift?«

Savannah nickte. »Mit Giften kennt Anoushka sich aus. Sie braucht nicht lange, um ein Gegenmittel herzustellen, wenn man ihr das Gift bringt.«

»Das ist eine wirklich gute Nachricht«, seufzte Emma. Sie konnte spüren, wie erneut Tränen in ihr aufwallten, doch diesmal gelang es ihr, die unerwünschten Gefühle zu unterdrücken. »Jetzt verdankt Karel Rasputin sein Leben.«

»Ach ja ...«, murmelte Savannah, als wäre das keine große Sache. »Rasputin wirkt immer so, als würde er sich nicht für Menschen oder andere Wesen interessieren, aber in Wahrheit kann er es nur nicht ertragen, alleine zu sein oder nicht beachtet zu werden.«

Emma schmunzelte. Es sah ganz danach aus, als hätte Rasputin trotz seiner Fehler auch eine gute Seite. Trotzdem hatte sie noch nicht vor, ihm so einfach zu vergeben. Vielleicht würde sie irgendwann so weit sein, doch nicht heute. Immerhin war der Vorfall zwischen ihnen erst etwas mehr als einen Tag her. Es fühlte sich jedoch so an, als wäre seit ihrer Ankunft auf der Morgenwind schon sehr viel mehr Zeit vergangen.

Auf einmal klopfte es an die halb geöffnete Tür. Kilian steckte den Kopf durch den Türspalt. »Störe ich?«, fragte er.

Savannah warf Emma einen vielsagenden Blick zu, dann setzte sie ein Lächeln auf und flötete: »Nein, Herr Kilian. Ihr stört keineswegs.« Sie knickste und verschwand so schnell, dass Emma nicht einmal protestieren konnte.

Kilian sah ihr nach, wie um sich zu vergewissern, dass sie auch wirklich gegangen war, dann trat er an Emmas Bett. Er sah immer noch elend aus, aber das war in Anbetracht der Umstände wohl nicht verwunderlich. Den Schmerz ignorierend, rutschte Emma ein Stück zur Seite, damit er sich setzen konnte. Obwohl es ihm unangenehm zu sein schien, ließ er sich auf der Bettkante bei Emmas Füßen nieder. »Ich wollte mich bei dir bedanken«, sagte er.

Morgenwind - die fliegende Stadt [Buch 1]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt