6. Die Legende der Morgenwind

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Derrick führte sie eine Weile kreuz und quer durch die Stadt, während er seine Besorgungen erledigte. Dabei stellte er sie auch dem Bäcker-Ehepaar vor, von dem sie überaus freundlich in Empfang genommen wurde.

»Wie geht es Herrn Kilian?«, fragte der Bäcker, ein rundlicher Mann mit schütterem Haar und geröteten Wangen.

Seine Frau war eher zierlich, mit einer strengen Frisur und einer schrillen Stimme. »Oh ja, wie geht es dem armen Jungen?«, fügte sie hinzu und lehnte sich über den Verkaufstisch. »Weißt du, Derrick«, meinte sie verschwörerisch. »Ich gebe ja nichts auf das ganze Geschwätz, das in der Weststadt die Runde macht.«

Derrick ließ seinen Blick über die Brote schweifen. »Und was wäre das für ein Geschwätz?«, fragte er beiläufig.

Emma spähte ihm neugierig über die Schulter. Die Brote sahen allesamt frisch gebacken aus und dufteten himmlisch.

»Ach, du weißt schon«, sagte die Bäckerin mit gesenkter Stimme. »Sie sagen, dass es seit Kilian die Geschäfte seines Vaters übernommen hat, stetig bergab geht. Mit uns und mit der Stadt.«

Derrick rümpfte die Nase. »Mit uns geht es schon seit Jahren bergab.«

Die Bäckerin warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. »Du weißt genau, was ich meine. Ich rede vom Tod des Barons und von den vielen Unfällen, die sich in letzter Zeit ereignet haben. Wir haben Olivia verloren, Ulyf, Minka, die Schneiderin, den Müller und nun auch noch deinen Vater.«

»Mein Vater lebt noch«, wandte Derrick ein, doch die Bäckerin ignorierte es.

»Man könnte meinen, wir wären vom Unglück verfolgt. Und dann auch noch die Sache mit den Megamon.« Die Bäckerin senkte ihre Stimme noch weiter. »Stimmt es, dass sie uns erneut aufgespürt haben? Dass sie ihre Gestalt verändern können?«

Emma konnte sehen, wie Derrick die Antwort, die ihm auf der Zunge lag, herunterschluckte. Sein ausgeprägter Adamsapfel wanderte auf und ab. Dann deutete er mit dem Zeigefinger auf einen Korb mit süßen Broten. »Ich nehme zwei davon.«



*



Im Anschluss an ihren Bäckerei-Besuch kletterten Emma und Derrick auf den Wachtturm, der die Stadtmauer von Regenfurt um einige Meter überragte. Die dort postierte Wache nickte Derrick zu und verabschiedete sich in die Mittagspause.

Derrick entfaltete die Brot-Tüte und reichte Emma ihr Gebäck, dann lehnte er sich gegen die halbhohe Mauer und blickte auf das flache Land hinaus. Direkt hinter der Stadtmauer plätscherte ein Fluss vorbei. Es musste derselbe Fluss sein, den Emma in der Nacht durchquert hatte. Dahinter lagen weitere Felder und Obstplantagen. Am Horizont konnte Emma die Umrisse von Häusern und das Glitzern eines Sees erkennen.

»Was ist das?«, fragte sie, während sie in ihr Brot biss. Es schmückte süß und saftig – und sogar noch besser, als sie erwartet hatte.

»Muschelheim am Tränensee«, antwortete Derrick. »Die Stadt ist inzwischen größtenteils verlassen. Dort gibt es nur noch das Vogelhaus, das von Baronesse Kamilla betreut wird.«

»Das Vogelhaus?«

»Nun«, meinte Derrick mit vollem Mund. »Ich sagte ja, dass wir es hier selten mit Flugzeugen und Raumschiffen zu tun bekommen, aber manchmal verirren sich Vögel in unsere Atmosphäre. Besonders dann, wenn wir uns der unteren Welt nähern. Kamilla fängt sie ein und kümmert sich um sie, bis wir sie wieder auswildern können.«

Morgenwind - die fliegende Stadt [Buch 1]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt