29. Die Bestimmung [2]

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Während Miragel am Eingang des Schlosses nach den Neuankömmlingen Ausschau hielt, wartete Emma im Salon, wo sich die Verwundeten für die Nacht zur Ruhe gebettet hatten. Viele von ihnen hatten sich Brüche vom Sturz aus großer Höhe oder Schnittwunden von den scharfen Schwingen der Geflügelten zugezogen. Doch was auch immer Miragel und Anoushka ihnen verabreicht hatten, es schien zu wirken und sie zumindest von ihren Schmerzen zu befreien.

An der hinteren Wand des Salons hatten es sich Joseph, Laurent und der Rest ihrer kleinen Familie gemütlich gemacht. Finka hatte sich zwischen ihren Adoptivvätern zusammengerollt, Penny lag ausgestreckt in Laurents Armen und Jonas ruhte in einem mit Wasser gefüllten Waschzuber. Als er Emma bemerkte, streckte er den Kopf aus dem Wasser und faltete die Arme auf dem Rand der Wanne.

»Wie geht es dir?«, flüsterte Emma und hockte sich zu ihm.

Statt einer Antwort tauchte der kleine Meermann bis zu den Augenbrauen ab und verursachte einen Schwall Blubberblasen. Die verästelten weißen Narben auf seinem schlaksigen Oberkörper erinnerten Emma wieder daran, was er schon alles durchgemacht hatte, dass Ulyf, sein Vater, von einer defekten Blitzkanone getötet und er selbst dem Tod nur knapp entkommen war.

»Du und Lusine, ihr habt uns alle gerettet«, sagte sie.

Jonas blickte sie aus traurigen froschgrünen Augen an. »Freunde von mir sind gestorben.«

»Das tut mir leid«, erwiderte Emma tonlos. »Aber wenn du nicht gewesen wärst, wären noch viel mehr Bewohner getötet worden.«

Jonas entgegnete ihren Blick. Einen Moment lang starrten sie sich fest in die Augen, dann tauchte er endgültig ab und rollte sich auf dem Boden seiner Schüssel zu einer kleinen Kugel zusammen.

Wenig später trafen die Bewohner aus dem Schutzraum und mit ihnen auch zahlreiche Verwundete ein. Miragel teilte sie am Eingangsportal nach dem Schweregrad ihrer Verletzungen ein und widmete sich anschließend im Rauchsalon den am schwersten Verletzten.

Emma assistierte ihm, indem sie ihm Materialien anreichte, Patienten ruhig hielt und regelmäßig in die Küche rannte, um heißes Wasser nachzufüllen. Anschließend demonstrierte ihr der Elf, wie man Verbände anlegte, Knochen schiente, sowie Wunden reinigte, desinfizierte und vernähte. Dank ihres Vorwissens aus der Schneiderei ging zumindest das Vernähen leichter als sie erwartet hatte. Mühelos konnte sie Miragels Anweisungen zur Fadenführung und zum abschließenden Verknoten des Fadens folgen. Nachdem sie es ihm ein paar Mal demonstriert hatte, ließ er sie alleine arbeiten.

Emma war so konzentriert bei der Sache, dass sie erst merkte, wie viel Zeit verstrichen war, als es bereits dämmerte. Ihr letzter Patient war Nori, der sich eine Wunde am Bein zugezogen hatte. Einer der Geflügelten hatte seinen Oberschenkel der Länge nach aufgeschlitzt, sodass das Fleisch auseinander klaffte. Die Wundränder waren jedoch sehr glatt, was bedeutete, dass die Verletzung vermutlich gut verheilen würde. Emma versorgte die Wunde fachmännisch und machte sich dann ans Nähen. Nori starrte die ganze Zeit über an einen fernen Punkt an der Decke, denn er konnte, nach eigener Auskunft, kein Blut sehen.

»Wo hast du die eigentlich die Narbe über deinem Herzen her?«, fragte Emma, um ihn abzulenken.

Nori sah an sich herab, als wüsste er gar nicht mehr, dass dieses alte Wundmal existierte. »Ach das«, seufzte er. »Das war gar nichts.«

»Sieht aber ziemlich tödlich aus«, erwiderte Emma.

»Ich wurde von einem Pfeil getroffen.«

»Jemand hat versucht, dich zu töten?«

Nori nickte langsam. Obwohl sie ihm etwas gegen die Schmerzen gegeben hatte, sah er noch immer ziemlich blass aus. »Ja, aber das ist schon lange her. Und es war ein Missverständnis. Ich bin nicht ...« Er verzog kurz das Gesicht. »... nachtragend.«

Morgenwind - die fliegende Stadt [Buch 1]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt