7. Die Prinzessin [1]

99 15 0
                                    

Auf ihrem Weg zur Villa Rosso, der Residenz von Prinzessin Oleanne, fuhr Derrick einen großflächigen Umweg, der sie nahe an den Rand der Stadt brachte.

»Wir sollten uns nicht zu nahe heranwagen«, meinte Derrick und hielt auf einer kleinen Hügelkuppe, damit Emma die Aussicht genießen konnte. »Am Rand der Stadt kann es zu heftigen Erschütterungen kommen. Dort spürt man noch viel stärker, dass wir uns auf einer lebenden Maschine aufhalten, die sich ständig in Bewegung befindet.«

Davon konnte Emma ein Lied singen. In der vergangenen Nacht hätten sie die Erschütterungen beinahe in den Abgrund katapultiert. Trotzdem konnte sie nicht verbergen, dass sie vom Anblick der Kante fasziniert war. Plötzlich hörte das Land einfach auf. Dahinter lagen nur noch Wolken und Nebelschleier. Nicht weit entfernt ergoss sich der Fluss Regen in das graue Nichts, von dem sie umgeben waren. Er stürzte über den Rand und verschwand einige Meter tiefer zwischen den Wolken. An der Klippe lag ein Mann in einem Liegestuhl und hielt seine Angel in das tosende Wasser.

»Das ist Nori«, meinte Derrick. »Er glaubt, er könnte sich nützlich machen, indem er seinem Hobby nachgeht.«

»Magst du keinen Fisch?«, erwiderte Emma.

»Nicht, wenn ich weiß, dass Meermänner im selben Fluss gelebt haben und gestorben sind«, brummte Derrick und setzte sein Gefährt wieder in Bewegung. Sie rollten den Hügel hinunter und wurden von goldgelben Feldern in Empfang genommen.

Emma genoss den Fahrtwind, der ihr ins Gesicht blies. Ein Schwarm Vögel erhob sich von einem brach liegenden Feld in die Luft, als die Maschine mit knatterndem Motor vorbei donnerte. Nur ein paar Minuten später erreichten sie einen Wald, dessen Laub eine herbstliche Färbung angenommen hatte. Emma setzte sich auf, um die Schönheit des Anblicks besser auskosten zu können.

»Das ist der Rotwald«, erklärte Derrick.

»Kreative Namensgebung«, bemerkte Emma.

»Ja, damit haben wir es auf der Morgenwind öfter zu tun«, gab Derrick zurück. »Ich glaube, unsere Urahnen waren keine Schöngeister. Sie sind die ganze Namen-Sache eher pragmatisch und unverblümt angegangen.« Er nahm eine Hand vom Lenkrad, um sich einen Schluck aus seinem Flachmann zu genehmigen. »Dieser Wald ist rot, also nennen wir ihn Rotwald. Der andere Wald ist blau, also nennen wir ihn Blauwald. Der Fluss ist nass, also nennen wir ihn Regen. Die Stadt liegt an einer Brücke über den Fluss, also nennen wir sie Regenfurt.«

Emma lachte. Wenn man es so betrachtete, waren auch die meisten Städte in ihrer Heimat von Pragmatikern benannt worden. Sie lehnte sich aus dem Wagen und betrachtete ihre Umgebung. Das Sonnenlicht zauberte ein wunderschönes Spiel aus Licht und Schatten auf den Waldboden. Am Wegrand sprossen Pilze. Ein Eichhörnchen sprang über ihnen von Ast zu Ast. »Gibt es hier viele Tiere?«, fragte sie.

»Wir geben unser Möglichstes, um den Artenreichtum zu erhalten«, erwiderte Derrick. »Aber nein, im Vergleich zu früher, ist es hier wie ausgestorben. Es heißt, in der guten alten Zeit wäre der Baron von Morgen regelmäßig zur Jagd geritten. Aus Vergnügen oder um den Bestand auszudünnen, weiß ich nicht, aber wenn Kilian heute auf die Idee käme, eine Jagd zu veranstalten, müssten wir Ziegen als Rehe und Schweine als Wildschweine verkleiden.«

»Hat er denn angedeutet, dass er gerne zur Jagd gehen würde?«, fragte Emma mit Unschuldsmiene. Sie wollte nicht zugeben, dass sie gern mehr über Kilian erfahren hätte. Er mochte ja ein Griesgram sein, aber er hatte ihr bereits zweimal das Leben gerettet. Genau wie der Märchenprinz, den sie sich als kleines Mädchen immer ausgemalt hatte.

»Nein, Kilian macht sich nichts aus solchen Dingen«, erwiderte Derrick. Gleich darauf verriss er beim Versuch, aus seiner Flasche zu trinken, das Lenkrad. »Beim steinernen Arsch der Medusa!«, zischte er, während er sich bemühte, sein Gefährt wieder unter Kontrolle zu bringen.

Morgenwind - die fliegende Stadt [Buch 1]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt