28. Schlaflos [1]

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Beim Anbruch des nächsten Tages befand sich Emma noch immer in einem betäubten Zustand. Es fühlte sich an, als säße sie unter einer kleinen Käseglocke, die alle Reize ihrer Umgebung nur abgeschwächt zu ihr durchdringen ließ. Die Welt fühlte sich grau und dumpf an.

Emotionslos wanderte Emma durch das Schloss, das sich im Lauf der Nacht in ein Lazarett für die zum Teil schwer verwundeten Stadtbewohner verwandelt hatte. Ihr Blick glitt über offene Wunden und Trümmerbrüche, bei denen sich ihr normalerweise der Magen umgedreht hätte, doch sie empfand absolut gar nichts. Nicht einmal ein Zwicken im Bauch. Kaum waren die Verletzten hinter ihr zurückgeblieben, hatte sie sie auch schon wieder vergessen.

Es waren Anoushka und Karel, die sie aus ihrer Betäubung befreiten, als sie am frühen Morgen mit Rasputin und Camio ins Schloss zurückkehrten.

»Achtung!«, rief die Hexe und drängte die weniger schwer verletzten Bewohner, die in der Eingangshalle herumlungerten, beiseite.

»Aus dem Weg!«, stimmte Karel mit ein.

Emma beobachtete die Szene vom linken Treppenarm aus. Ihr Blick fiel auf Rasputin, den Anoushka und Karel zwischen sich trugen. Er schien ohnmächtig zu sein. Leblos hing er zwischen dem Prinzen und der Hexe und sein langer Inverness-Mantel schleifte über den blutverschmierten Dielenboden. Doch obwohl sein Bewusstsein ausgelöscht zu sein schien, hielt er seinen Sohn fest umklammert.

Es war dieser Anblick, der Emma wieder zur Besinnung brachte. Ein Schauer wanderte durch ihren Körper, als wäre sie von einem kalten Luftzug gestreift worden. Sie blinzelte, während sich ihre Augen scharfstellten und die Realität ungehindert auf sie einströmte. Der metallische Duft von Blut, der sich mit dem Gestank von Qualm und verbranntem Fleisch mischte, drang an ihre Nase. Gequältes Stöhnen und Wimmern, gelegentlich durchbrochen von Schmerzensschreien, erfüllte ihre Ohren. Die Panik, die sie in der vergangenen Nacht empfunden hatte, kehrte mit der Wucht eines vorbeifahrenden Güterzugs zu ihr zurück. Und im Kielwasser der Panik folgten Trauer und Zorn.

Emma sprang die Treppe hinunter und folgte Anoushka und Karel in den Rauchsalon, der im Moment als Lager für Verbandsmaterial und als Operationssaal genutzt wurde. »Was ist mit ihm?«, wollte sie wissen.

Anoushka und Karel hievten Rasputin und seinen Sohn auf die lange Holzbank an der hinteren Wand. »Wissen wir nicht«, antwortete Karel. »Wir waren auf dem Weg zum zentralen Schutzraum, da haben wir sie gefunden. Mitten auf den Sonnenfeldern.«

»Und Camio?«, fragte Emma, während sie sich Rasputin näherte. Der kleine Junge lag auf seiner Brust, den Kopf in der Beuge an seinem Hals, die kleinen Hände zu Fäusten geballt. Rasputin hielt ihn mit einem Arm an sich gepresst, so fest, dass er nicht herunterfallen konnte.

»Keine Sorge. Der Wechselbalg schläft«, antwortete Anoushka, machte einen Schritt zurück und stemmte die Hände in die Taille. »Sie scheinen beide unverletzt zu sein. Vermutlich sind sie nur entkräftet.« Ihr Blick wanderte zu Emma und an der Art, wie sie das Gesicht verzog, erkannte Emma, dass sie einen schrecklichen Anblick bieten musste. »Mit Verlaub«, sagte Anoushka. »Aber du siehst furchtbar aus. Hast du geschlafen?«

Emma schüttelte den Kopf. Es grauste ihr schon beim Gedanken an Schlaf.

»Ich hole Kamilla«, sagte Karel und flitzte zur Tür hinaus.

»Was ist mit den Menschen im Schutzraum?«, fragte Emma, um von ihrem eigenen Zustand abzulenken. »Geht es ihnen gut?«

»Schwer zu sagen«, antwortete Anoushka. »Sie fürchten sich zu sehr, um die Tore zu öffnen. Es werden auch noch immer einige Bewohner vermisst. Wir hoffen, dass wir sie dort unten finden können.«

Morgenwind - die fliegende Stadt [Buch 1]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt