21. In Ungnade gefallen [1]

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Emma war an einem Strand. Ihre Zehen gruben sich in den weißen Sand. Der Ozean ließ ein rhythmisches Rauschen vernehmen, während er in regelmäßigen Abständen ihre Knöchel umspülte. Aus irgendeinem Grund wusste Emma, dass es sich um den Pazifischen Ozean handelte. Sie folgte dem endlosen Sandstreifen, bis sie einen leblosen Körper entdeckte, der wie ein Stück Treibholz am Ufer lag. Beim Anblick der reglosen Gestalt beschleunigte sie ihre Schritte. »Hallo?«, rief sie. Die Gestalt regte sich nicht. Ein weißes Tuch bedeckte ihr Gesicht. Auch der Rest ihres Körpers war ganz in weiß gekleidet.

Emma ging neben der Gestalt in die Hocke und fasste das Tuch, um es zurückzuschlagen und ihr Gesicht zu enthüllen. Unter dem Tuch kam eine Fratze aus Metall zum Vorschein, mit rot glühenden Augen und einem riesigen Maul voll Kabeln und Drähten. Angeekelt ließ Emma das Tuch wieder fallen und richtete sich auf.

Weiter hinten, wo der Sandstrand in dichten, grünen Dschungel überging, stand eine zweite Gestalt und winkte ihr.

Emma vergaß die metallische Kreatur und stapfte in Richtung Dschungel davon. Sie kam jedoch nicht weit. Ein Rascheln, wie von trockenem Laub oder Korn, ließ sie innehalten. Vorsichtig drehte sie sich um.

Der Strand war nicht länger nur ein Strand. Vielmehr schien er sich in eine Brutstätte für Megamon verwandelt zu haben. Wie Schildkröten-Babies, die sich aus dem Sand gruben, brachen überall lange, schneeweiße Arme aus dem Boden. Ihre Finger bewegten sich wie Spinnenbeine. Der ganze Strand schien in Bewegung zu sein.

Emma zögerte nur einen winzigen Augenblick, dann rannte sie los, dem Urwald entgegen.

Als sie das Unterholz erreichte, verwandelte sich der Dschungel in den Blauwald. Ein Band aus bunten Lampions leuchtete Emma den Weg durch das Dickicht. Sie folgte ihm bis zum Theater, das in ihrem Traum jedoch eher wie die Aula ihrer ehemaligen Schule aussah. Dort wurde sie von Kilian, Derrick, Savannah, ihrer besten Freundin und ihrer Schwester in Empfang genommen. Die Gestalten schienen immer wieder miteinander zu verschmelzen. Trotzdem wusste Emma unumstößlich, dass diese fünf Personen bei ihr waren.

Kilian schloss sie fest in die Arme und hob sie hoch, als wöge sie kaum mehr als eine Feder. Emma schlang die Beine um seine Hüfte und die Arme um seinen Hals. Ihr Kuss war filmreif und schien ewig zu dauern. Sie spürte einen gewissen Triumph dabei, ihrer Schwester und ihrer besten Freundin demonstrieren zu können, dass sie diesmal einen Mann gefunden hatte, der ihrer Gefühle würdig war. Doch noch während ihre Lippen miteinander verschmolzen und ihre Zungen einander fanden, brach der Boden unter ihnen auf. Flammen hüllten sie ein. Emma wollte sich von Kilian lösen, doch er hielt sie fest umklammert. Langsam versanken sie in der Feuerglut. Egal, wie heftig sie sich gegen Kilians Griff wehrte, es war zwecklos. Sie schlug gegen seine Brust, hämmerte auf seine Schultern, versetzte ihm sogar eine schallende Ohrfeige, aber Kilian lachte nur. Auf einmal schien er nicht mehr Kilian zu sein, sondern Rasputin. Kurz bevor sie in der glühenden Lava verschwanden, schlug Emma die Augen auf.



*



Das Erste, das Emma nach ihrem Erwachen bemerkte, war, dass sie an ein Bett gefesselt war. Etwas verwirrt stellte sie fest, dass es sich nicht um ihr Bett im Burgfräulein-Zimmer handelte, sondern um ein wackeliges Feldbett. Trennwände aus dunklem Stoff umgaben ihre Liege, vermutlich, um ihr ein wenig Privatsphäre zu ermöglichen. »Hey!«, rief sie und zerrte an den Kordeln, die ihre Handgelenke fesselten.

Es dauerte nur einen kurzen Moment, bis Kilian an ihrem Bett erschien. »Beruhige dich«, sagte er. Seine Miene war genauso grimmig wie bei ihrer ersten Begegnung. Vielleicht sogar noch etwas grimmiger. Er trug eine dunkle Hose und ein einfaches weißes Hemd. Durch den dünnen Stoff konnte sie einen Verband erkennen, der seine Schulter bedeckte. Emmas Kopf und ihre rechte Hand waren ebenfalls mit Mullbinden versorgt worden.

Morgenwind - die fliegende Stadt [Buch 1]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt