15. Das Lebkuchenhaus [1]

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Emma war in einem Raum, der ihr vage bekannt vorkam. Noch während sie darüber nachdachte, veränderte sich der Raum und wurde zu einem langen Korridor mit Sitzbänken zu beiden Seiten. Sie folgte dem Korridor durch eine Glastür, die sich von alleine öffnete.

Hinter der Tür blockierte ein Krankenhausbett mit Bettbügel den Weg. Emma schob es zur Seite und näherte sich einer der Türen, die vom Korridor abzweigten.

Plötzlich wehte ihr ein Vorhang ins Gesicht. Im nächsten Moment befand sie sich auch schon im Innern eines Krankenzimmers. Ein Bett stand am Fenster, das andere schräg hinter ihr, sodass sie es nur aus dem Augenwinkel erahnen konnte. Obwohl das Licht eingeschaltet war, lag das hintere Bett im Dunkeln. Sie konnte eine Gestalt erspähen, die vornüber gebeugt auf der Bettkante saß. Ihr Gesicht konnte sie jedoch nicht erkennen.

»Emma, Mäuschen.« Die Stimme gehörte ihrer Mutter.

Emma näherte sich dem Bett am Fenster. Es war leer. Sie bückte sich und warf einen Blick unter das Bett, das plötzlich gar nicht mehr wie ein Krankenbett aussah, sondern eher wie das Bett in ihrem Kinderzimmer. In der Finsternis unter dem Bett konnte sie die Umrisse einer Gestalt ausmachen. Es war ihre Mutter. Sie hatte sich unter dem Bett versteckt wie ein kleines Kind oder wie der schwarze Mann, den kleine Kinder fürchteten. Ihre blutverschmierten Lippen säuselten Emmas Namen, als wäre es eine Beschwörungsformel.

Emma ließ sich auf die Knie herab und streckte die Hände nach ihrer Mutter aus. Doch ihre Mutter reagierte nicht. Ihre Augen waren geschlossen. »Mama«, ächzte Emma. Aus den Augenwinkeln konnte sie sehen, wie die andere Gestalt aufstand - oder es zumindest versuchte. Ihr Körper schien in der Mitte gefaltet zu sein. Ungelenk und schlurfend kam sie näher. »Mama!«, wiederholte Emma. Mit ganzer Kraft streckte sie sich nach ihrer Mutter. Die Bettkante schnitt schmerzhaft in ihre Schulter. »Gib mir deine Hand«, hörte sie sich sagen.

Der Kopf ihrer Mutter fiel zur Seite. Dann schlug sie die Augen auf. Sie waren leuchtend rot, wie die der Megamon, die sie im Einkaufszentrum verfolgt hatten.

Emma zuckte zurück, unterdrückte einen Schrei und kam keuchend und nach Luft schnappend wieder auf die Beine. Sie hatte jedoch keine Zeit zum Durchatmen. Die gekrümmte Gestalt war ihr inzwischen so nahe, dass sie nur die Hände ausstrecken musste, um sie zu berühren. Mit Schrecken stellte Emma fest, dass es sich bei ihr um Savannah handelte. Ihre langen, dunklen Haare und ihre Schürze waren zweifelsfrei zu erkennen. Emma stieß die Savannah-Kreatur zur Seite und floh zurück in den Korridor.

Doch das Krankenhaus existierte nicht mehr. Plötzlich befand sie sich in der Boutique. Sie wusste, dass es sich um die Boutique handelte, auch wenn ihre Wände aus rostigem Metall bestanden und es nach Schimmel und Moder stank. Hinter der Kasse stand eine Frau. Es handelte sich jedoch weder um ihre Chefin, noch um eine ihrer Kolleginnen, sondern um Prinzessin. Jedenfalls musste Emma das annehmen. Die Frau trug einen großen Hut und verbarg ihr Gesicht hinter einem weißen Schleier. Sie wirkte nicht feindselig, sondern schien Emma durch den Schleier hindurch zu beobachten.

Emma wollte gerade etwas sagen, da erklang ein lautes Geräusch und ließ sie herumfahren. Vor der Fensterscheibe hatten sich Dutzende Megamon versammelt. Einer von ihnen war halb Kilian, halb Maschine und klopfte mit seiner Faust gegen die Glasscheibe. Vielleicht wollte er, dass Emma ihm die Tür öffnete. Sie dachte jedoch gar nicht daran, sondern wich langsam vor ihm zurück. Daraufhin schlug der Megamon noch einmal gegen die Scheibe. Diesmal so fest, dass das Glas lange Risse bekam und ein markerschütterndes Klirren durch die Boutique hallte.

Emma wandte sich zur Flucht und wäre dabei beinahe gegen die Prinzessin geprallt, die auf einmal direkt hinter ihr stand. Selbst bei ihrer letzten und bislang einzigen Begegnung waren sie sich nicht so nahe gewesen. Emma nahm einen beißenden Geruch wahr, der sie an irgendetwas erinnerte, aber sie wusste nicht mehr, an was. Die Prinzessin schien sie durch den weißen Stoff ihres Schleiers eingehend zu mustern. Ihr Blick brannte wie Feuer auf Emmas Haut. Dann zerbrach die Fensterscheibe mit einem Knall und Emma schreckte aus dem Schlaf.

Morgenwind - die fliegende Stadt [Buch 1]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt