19. Wasser

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Anoushka traf auf dem Weg nach Regenfurt zu ihnen. Sie bahnte sich mit ihrem Zauberstab den Weg durch ein hohes Weizenfeld. Die Pflanzen bogen die langen Hälse, um sie passieren zu lassen. Der Anblick ließ Emma an Moses denken und daran, wie er das rote Meer geteilt hatte. »Derrick hat mir schon alles erzählt«, erklärte sie, bevor Kilian etwas sagen konnte. »Ich nehme an, Ihr habt einen Plan, Baron.«

»Du kennst doch mit Sicherheit einen Zauber, der Titus aufspüren kann,« erwiderte Kilian.

Anoushka pikste ihm mit dem Zauberstab in die Rippen. »So einfach ist das nicht, Herr Baron«, sagte sie spöttisch. »Magie ist kein Wunschkonzert, kein All-You-Can-Eat-Buffet. Ein solcher Zauber erfordert ausgiebige, wochenlange Vorbereitungen.«

»Es könnte um Leben oder Tod gehen«, wandte Kilian ein.

»Das interessiert den Zauber leider wenig«, gab Anoushka verschnupft zurück. Wie schon bei ihrer letzten Begegnung, beachtete sie Emma kaum. Auf ihre eigene Art wirkte sie genauso hochnäsig wie Miragel.

»Gibt es denn einen Ort in Regenfurt, an dem Titus sich öfter aufhält?«, fragte Emma.

»Nein«, antwortete Kilian. »Er ist kaum in der Stadt. Höchstens mal, um ein paar Besorgungen zu erledigen.«

Ein kühler Wind streifte die Pflanzen und erzeugte ein unheimliches Rascheln. Anoushka hob ihren Stab und erhellte ihre Umgebung mit einem rötlichen Leuchten. In der Ferne konnte Emma bereits die Stadtmauer von Regenfurt erkennen.

»Hört ihr das?«, hauchte Kilian auf einmal.

Emma presste die Lippen aufeinander und lauschte in die Nacht. Wieder vernahm sie das trockene Rascheln der Halme. Der Wind strich ihr die Haare aus dem Gesicht und legte sich wie ein Schleier über ihre Ohren. Dann hörte sie es. Ein Rufen. Sie konnte nicht verstehen, was gerufen wurde, aber es handelte sich ganz eindeutig um eine menschlich klingende Stimme.

»Verdammt!«, fluchte Kilian und rannte los. Die hohen Weizenpflanzen abseits des Wegs verschluckten ihn.

»Ach, nicht doch«, knurrte Anoushka. »Dieser Narr! Anstatt auch nur einmal sein Hirn anzustrengen, rennt er einfach los.« Sie reckte ihren Zauberstab in die Luft. Eine rote Kugel löste sich von seiner Spitze und schwebte langsam gen Himmel, sodass ihr Schein die ganze Umgebung erhellte.

Emma blieb jedoch nicht, um den Anblick zu bewundern, sondern folgte Kilian durch das Weizenfeld. Sie rannte so schnell, dass es sich anfühlte, als wollte ihr das Herz durch den Hals aus der Brust springen. Halme und Blätter klatschten gegen ihre Arme und der unebene Boden schien sie aus dem Gleichgewicht bringen zu wollen. Sie achtete jedoch kaum darauf. Ihre Gedanken drehten sich um Titus.

Bald wurden die Schreie lauter und deutlicher. Obwohl Emma noch immer keine einzelnen Worte verstehen konnte, glaubte sie, Titus' Stimme zu erkennen.



*



Völlig außer Atem brach Emma schließlich aus dem Weizenfeld und wäre beinahe eine Uferböschung hinabgestürzt. Gerade noch rechtzeitig konnte sie die Arme ausstrecken und sich am Stamm einer Trauerweide festhalten, die ihre langen Äste ins Wasser tauchte.

Vor ihr lag ein See, vermutlich der Tränensee. Seine spiegelglatte Oberfläche schien völlig unberührt zu sein. Erst auf den zweiten Blick konnte sie weiter hinten im Wasser, weit draußen, einen Schatten ausmachen.

Emma stieß sich von der Weide ab und folgte dem Ufer bis sie zu einem Haus gelangte, das an drei Seiten von Volieren umgeben war. Die Vögel im Innern der Käfige schnatterten und piepsten aufgeregt. Trotz Anoushkas Lichtkugel war es zu dunkel, um die Tiere genauer zu erkennen. Es mochte sich um Spatzen, Sperlinge oder Meisen handeln. Der Grund für ihre Aufregung war Kilian, der auf den Steg hinter dem Vogelhaus hinausgelaufen war. Emma folgte ihm. Die Holzbohlen knarrten und knarzten unter ihren Schuhen. Sie fühlten sich morsch und glitschig an.

Morgenwind - die fliegende Stadt [Buch 1]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt