15. Das Lebkuchenhaus [1]

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*


Mit pochendem Herzen schlug Emma die Augen auf. Feines Sonnenlicht fiel durch das Turmfenster und wärmte ihr Gesicht. Trotzdem fiel es ihr schwer, die Angst aus ihrem Albtraum abzuschütteln. Es war, als würde der Traum seinen Schatten auf den vor ihr liegenden Tag werfen. Einen Schatten, den kein Sonnenstrahl vertreiben konnte.

Emma setzte sich auf und fuhr sich mit den Händen durch die Haare. Ihre Haare stanken noch immer nach Rauch. Der Geruch musste sich darin festgesetzt haben. Automatisch musste sie an Kilian denken. Nachdem sie gestern ins Schloss zurückgekehrt waren, hatte er sich wortlos davongemacht. Etwas später hatte sie gesehen, wie er auf dem Übungsplatz hinter dem Schloss mehrere Holzpfosten in die Erde gerammt hatte. Mit dem Schwert auf Dinge einzuschlagen, schien seine bevorzugte Methode des Stressabbaus zu sein. Emma konnte es ihm jedoch nicht verdenken. Savannah hatte den ganzen gestrigen Tag versucht, Rasputin zum Bleiben zu bewegen, doch der Dämon hatte sich nicht umstimmen lassen. Natürlich konnte Emma verstehen, dass er wütend und gekränkt war, doch deswegen gleich eine so endgültige Entscheidung zu treffen, war ihrer Meinung nach ziemlich übertrieben. Außerdem zeugte es davon, wie wenig ihm Savannah und ihr Kind bedeuteten. Nicht, dass sie etwas anderes erwartet hatte.

»Fräulein Emma?« Miragel klopfte von außen an die Tür.

Emma zog sich die Bettdecke bis zum Kinn. »Du kannst reinkommen!«

Der Elf öffnete die Tür und glitt völlig lautlos hindurch. »Ich sehe, Ihr seid wach.«

»Na ja«, murmelte Emma und rieb sich die Augen. »Wie man es nimmt.«

»Es tut mir leid, Euch so früh am Morgen stören zu müssen, und es wäre mir auch wirklich lieber, ich müsste es nicht, aber-«

»Nun sag schon, was los ist«, fiel ihm Emma ins Wort. Sie hatte schlechte Laune, ohne so genau sagen zu können, wieso. Davon abgesehen, gelang es Miragel nur allzu leicht, sie auf die Palme zu bringen. Ganz egal, was er sagte, es klang immer abwertend oder vorwurfsvoll.

»Es geht um Savannah«, erklärte Miragel, während er ans Fußende des Bettes trat. Heute trug er eine bodenlange Robe aus dunkelgrüner Seide, die an der Taille von einem Gürtel gehalten wurde. Die Gürtelschnalle hatte die Form eines Blattes und in das Blatt war ein Symbol eingraviert: vier wellenförmige Linien und ein darüber aufragender Halbkreis.

»Was ist mit Savannah?«, fragte Emma alarmiert.

Miragel verschränkte die Hände auf dem Rücken und wanderte langsam zum Fenster. »Rasputin hat die Stadt im Morgengrauen verlassen.«

Emma setzte sich ruckartig auf. »Schon so früh?«

»Mit Eintritt in die Sphären der unteren Welt«, antwortete Miragel. »So sehr ich sein Verschwinden auch begrüße, Savannahs Leid wird für eine Weile unermesslich sein.«

»Das kann ich mir vorstellen«, ächzte Emma, schlug die Bettdecke zurück und schwang die Beine aus dem Bett. Sie wusste noch genau, wie ihre Mutter reagiert hatte, als sie von Ehemann Nummer zwei verlassen worden war. Savannah brauchte dringend jemanden zum Reden. »Wo ist Savannah?«

»Auf dem Weg zum Schloss«, sagte Miragel. »Sie wird versuchen, Herrn Kilian umzustimmen.«

»Und wo ist Kilian?«

»Er hat etwas Dringendes zu erledigen.«

Emma riss den Kleiderschrank auf und suchte nach etwas zum Anziehen. Erneut entschied sie sich für ein Kleid, diesmal eines aus rotem Samt.

Während sie sich umzog, blickte Miragel aus dem Fenster. Sie war zu aufgebracht, um sich an seiner Anwesenheit zu stören. »Etwas stimmt nicht«, sagte er plötzlich, fuhr herum und rauschte mit wehendem Gewand zur Tür hinaus.

Emma fluchte leise, knöpfte ihr Dekolleté zu und folgte ihm in die Eingangshalle. Gerade als sie dort ankamen, öffnete sich das Portal und Titus trat ein. Er hatte ein in Decken gewickeltes Bündel auf dem Arm: Camio.

»Wo ist Savannah?«, fuhr Miragel ihn an.

Titus hielt das Baby, als wäre es ein Paket mit der Aufschrift Achtung! Zerbrechlich. »Wir sind uns auf dem Weg zum Schloss begegnet. Sie sagte, ich solle auf Camio aufpassen, dann ist sie zurück zur Stadt gelaufen.«

»Zur Stadt?« Miragel blickte durch das Portal, als suche er die Gegend nach Savannah ab. »Was könnte so wichtig sein, dass sie ihr Kind in deiner Obhut lässt?«

»Hey«, beschwerte sich Titus leise, aber Miragel überhörte es.

»Was es auch ist, wir müssen es herausfinden«, erwiderte Emma. Auf keinen Fall würde sie zulassen, dass Savannah ein ähnliches Schicksal erlitt, wie ihre eigene Mutter. Ohne auf Miragel zu warten, durchquerte sie das Portal und trat in den blendenden Sonnenschein hinaus.


*


Als Emma die Schule erreichte, bemerkte sie Rufus, den alten Hund, der bei Laurent und Joseph wohnte. Er lag auf der Seite und ließ sich die Sonne auf den Pelz brennen. Ein Sinnbild von Ruhe und Gemütlichkeit. Emma war schon fast an ihm vorbei, da hob er den Kopf und blickte sich um. Doch es war nicht Emma, die seine Aufmerksamkeit geweckt hatte, sondern das rasch näher kommende Geklapper von Pferdehufen. Emma drehte sich um und schirmte ihre Augen mit der Hand vor der Sonne ab.

»Habt Ihr gedacht, es wäre schlau, einfach so loszulaufen?«, fragte Miragel. Er saß auf dem Rücken eines rot-braunen Hengstes. An den Zügeln führte er ein zweites Pferd, eine zierlich gebaute Stute mit weiß-braun geflecktem Fell und einer zotteligen Mähne.

Emma zuckte mit den Schultern. »Laufen ist besser als warten. Vor allem, wenn es auf jede Sekunde ankommen könnte. Oder siehst du das anders?«

Statt einer Antwort, ließ der Elf die Zügel der Stute los. »Ich hoffe, Ihr könnt nicht nur große Töne spucken, sondern auch reiten.« Mit diesen Worten gab er seinem Pferd die Sporen. Seine Robe blähte sich auf, als er Richtung Regenfurt davongaloppierte.

Emma unterdrückte ihren Ärger, schnappte sich die Zügel und kletterte auf den Rücken der Stute. Ihre letzte Reitstunde war schon mehr als fünfzehn Jahre her. Daher fiel es ihr im ersten Moment schwer, sich im Sattel zurechtzufinden. Zum Glück schien Miragel sie nicht so sehr zu verabscheuen, wie es manchmal den Anschein hatte. Jedenfalls hatte er ein Tier ausgewählt, das sich leicht reiten ließ. Ein sanfter Druck mit den Waden reichte aus, um die Stute zum Vorwärtsgehen zu bewegen. Nachdem sie sich an ihren schaukelnden Gang gewöhnt hatte, verstärkte sie den Druck und brachte das Tier zum Traben.

Morgenwind - die fliegende Stadt [Buch 1]Dove le storie prendono vita. Scoprilo ora