1. Späte Kundschaft [1]

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Emma blickte bereits zum zehnten Mal innerhalb weniger Minuten auf die Uhr. Die Zeiger schienen sich an diesem Abend viel langsamer zu bewegen als sonst. Wie Schnecken krochen sie über das Ziffernblatt. Es war bereits halb sechs und nur noch eine einzige Kundin befand sich in der Boutique. Ziellos schlenderte sie zwischen den Kleiderständern umher und zupfte an den Klamotten, ohne auch nur einen Blick Richtung Umkleide zu werfen. Emma nannte diesen Typ Kundin den Schwiegermutter-Typ.

Schwiegermutter-Kundinnen fielen in den Laden ein, grapschten alles an, machten unfreundliche Bemerkungen über die Qualität der Ware oder die Freundlichkeit der Verkäuferin, und verschwanden dann wieder, eine Spur aus Chaos und negativen Gefühlen hinterlassend.

Innerlich mit den Augen rollend, sah Emma zu, wie die Kundin einen Pullover nach dem anderen aus einem ordentlich gefalteten Stapel zog, ausschüttelte und dann einfach wieder zurückwarf. Sie konnte es nicht leiden, wenn Menschen so wenig Respekt für Kleidung besaßen. Besonders für Kleidung, die ihnen nicht gehörte. Es war einfach nicht gut, wenn ein empfindlicher Pullover aus dunkelblauem Samt unschöne Knautsch-Spuren bekam. Mal ganz davon abgesehen, dass sie diejenige war, die das ganze Chaos am Ende ihrer Schicht wieder aufräumen musste. Und das ausgerechnet heute. Immerhin hatte sie sich beinahe verschuldet, um sich die teuren Schuhe leisten zu können, die sie am Abend zur Party tragen wollte.

Dementsprechend erleichtert war sie, als die Kundin um zwanzig vor sechs den Laden verließ. Allerdings nicht, ohne noch ein paar Mal missbilligend die Nase zu rümpfen. Emma ignorierte es und lächelte steif, bis die Frau um die nächste Ecke verschwunden war. Gleich darauf machte sie sich eilig daran, alles wieder in Ordnung zu bringen. Sie drehte sogar noch eine Runde durch die Boutique, um die Umkleiden, die Toiletten und den Hinterausgang zu überprüfen. Alles war in einem guten Zustand oder zumindest nicht schlimmer, als zu Beginn ihrer Schicht. Sie wollte sich gerade an die Abrechnung machen, da vernahm sie das Bimmeln der Türglocke. Das Herz rutschte ihr in die Hose. Es war fünf Minuten vor sechs.

Emma überlegte ernsthaft, ob sie die Kundin wieder vor die Tür setzen sollte. Das hätte ihrer Chefin zwar gar nicht gefallen, aber damit konnte Emma leben. Sie hatte ohnehin nicht vor, bis an ihr Lebensende in der Boutique zu arbeiten. Vorsichtig lugte sie um die Ecke des Gangs, der von den Umkleidekabinen zur Kasse führte. Derweil erklang das Bimmeln der Türglocke noch weitere fünf Mal. Es schien gar nicht mehr aufzuhören. Emma streckte sich, um besser sehen zu können. Dann sah sie ihn.

Der Mann war groß und blond und trug eine Art altmodische Uniformjacke mit stehendem Kragen und silbernen Knöpfen. Die Frau an seiner Seite hatte fließende blonde Locken und war ganz ähnlich gekleidet. Allerdings besaß ihre doppelreihige Jacke die Ärmel eines Capes und ihre Beine steckten in hochhackigen Stiefeln. Die beiden sahen wirklich sehr chic aus.

Ihnen folgte eine Asiatin, die einen bodenlangen Kimono trug. Sie bewegte sich langsam und trippelnd, was entweder am Schnitt des Gewands oder an ihren hohen Holzsandalen liegen musste.

Der Asiatin folgte ein Mädchen mit Porzellan-Teint und ungewöhnlich großen Augen. Ihr ganzes Erscheinungsbild, von den karamellfarbenen Locken bis zu den langen Wimpern und dem Ballonkleid, erinnerte Emma an eine antike Puppe.

Auf das Mädchen folgten noch zwei Frauen. Die Eine war eine hübsche Brünette, mit warmen Augen und einem herzlichen Lächeln. Die Andere war eine Riesin, die Emma um mindestens zwei Köpfe überragte. Sie hatte kurze, feuerrote Haare und ein Kreuz, das einem Schwergewichtsboxer Konkurrenz gemacht hätte.

»Sieht aus, als wäre niemand hier«, meinte die Frau mit den Stiletto-Stiefeln. Ihre Stimme war ungewöhnlich tief und rauchig. Der Mann, der die Boutique als Erster betreten hatte, ließ den Blick über die Kleider an den Wänden schweifen.

Morgenwind - die fliegende Stadt [Buch 1]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt