I LIE TO YOU

By larellee

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Du kennst jemanden, wenn du weißt, wovor er sich fürchtet ... Ihr Lächeln zieht jeden in den Bann, seine Auge... More

Vorwort
Aesthetics
Letzter Atemzug
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Epilog
Nachwort + Dankesagung

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By larellee

Ace

Paiges bezauberndes Lächeln fällt in sich zusammen, wie ein Kartenhaus. Durch einen Luftzug, der durch die geöffnete Tür, wird es zerstört - was ist nur passiert? »Alles... Alles gut bei dir?«, frage ich ehrlich besorgt. Warum ist sie auf einmal so ... angsterfüllt?

»Ich...«, stottert sie und gestikuliert wild mit der Hand. Sie fächert sich Luft zu und atmet ungleichmäßig. »Hast du eine Panikattacke? Oder einen Schlaganfall? Brauchst du einen Krankenwagen?«

Paige starrt nur auf irgendwas hinter mich, mit weit aufgerissenen Augen und einem angsterfüllten Blick. Ich drehe mich ebenfalls um, entdecke aber nur mehrere gut gekleidete Männer, die sich einen Tisch geben und den Blick suchend über den Saal schweifen lassen. Ihre breiten Schultern spannen sich unter den maßgeschneiderten Anzügen augenscheinlich an; unverkennbar kündigen sie Unheil an, als wären sie Boten.

»Paige? Rede mit mir«, fordere ich sie sorgenvoll an, sehe Furcht, wie sie ein unebenes Muster auf ihre weichen Züge zeichnet.

Sie schüttelt nur mit dem Kopf und rennt einfach davon. »Ich muss zur Toilette«, presst sie noch hervor und rauscht auf die Tür zu. Die Toilette ist genau in der anderen Richtung; mein erster Warnhinweis. Etwas ist hier faul. Ich rufe ihr hinterher, aber sie ist schon bei der Tür angekommen. Ein paar Gäste werfen uns verstohlene Blicke zu, die ich jedoch gekonnt ignoriere. Paige reißt die Tür auf, ehe der Türsteher reagieren kann und erschrickt ihn damit zu Tode. Dann verschwindet sie in der kalten Nacht. Sie hat nicht einmal ihre Jacke mitgenommen.

Irgendwas stimmt hier ganz und gar nicht, also laufe ich ihr hinterher. Ich höre Stühle umkippen, als würden mehrere Menschen ruckartig aufstehen. Vielleicht ist sie vor den Typen geflohen? Mein Herz beginnt sofort, höher in meinem Brustkorb zu schlagen und ich frage mich, was genau hier abgeht.

Ich laufe auf den Türsteher zu, der wieder zusammenzuckt und mit dem Kopf schüttelt. »Mannomann, was geht denn hier ab?«, brummt er mürrisch, rollt mit den Augen.

Paige hat schon fast das Ende der Straße erreicht. »Paige? Was ist los mit dir?«, rufe ich erneut. Sie bleibt stehen und ich hole auf, bis ich bei ihr bin. Besänftigend streiche ich ihr über die Schulter, hoffentlich hilft das ein wenig. Sie tippt auf ihrem Handy rum und hebt den Blick, um nach etwas Ausschau zu halten. Dann schüttelt sie nur den Kopf als Antwort und brabbelt etwas unverständliches vor sich hin. »Was stimmt denn nicht?«

»Ich muss weg, ganz dringend.« Sie schaut mir direkt in die Augen. »Ich liebe dich, vergiss das nie.« Sie nimmt mein Gesicht in beide Hände und presst ihre Lippen auf meine, als würde ihr Leben davon abhängen. Und im gleichen Moment tritt sie einen Schritt zurück, ehr sich der Kuss vertiefen kann, im Keim erstickt.

Und auf einmal ... Ertönt ein lauter Schuss. Paige kreischt, ist nichts weiter als ein zerfetzter Atemzug, während sie stehen bleibt, sich erschrocken umdreht. Sie packt meine Hand und zieht mich auf einen schwarzen Ranger Rover zu – warum ist mir dieser vorher nicht aufgefallen?

Ein weiterer Schuss zerreißt den nachtschwarzen Himmel, eine Kugel zischt knapp an meinem Ohr vorbei. Ein Schuss, der die Nacht zerreißt, die das Netz zerreißt, dass sich um die Stadt gesponnen hat. Einige Leute auf den Gehwegen schreien entsetzt auf und versuchen schleunigst, zu fliehen. Sie fliehen vor dem Unheil, doch sie wissen nicht, dass man vor einem namenlosen Unheil nicht fliehen kann. Ich realisiere nicht richtig, dass jemand gerade auf uns geschossen hat. Uns hätte töten können. Denn dafür bleibt schlichtweg keine Zeit, wir fliehen.

Doch wie soll das gehen - vor etwas fliehen, das keinen Namen trägt, den man schreien kann? Das Unheil hat nur Krallen, die den Schuss tätigen, der dich niederstreckt, Fäuste, die dich betäuben.

Eine weitere Kugel wird abgefeuert, sie trifft die hintere Tür des Wagens. Schnell steigen wir ein. Paige muss den Besitzer kennen, sicherheitshalber sende ich ein Stoßgebet gen Himmel.

Ich habe die Tür noch nicht einmal ganz geschlossen, da brettert der oder die - es - schon in einer immensen Geschwindigkeit los.

»Bist du okay?«, frage ich sofort, hoffentlich wurde sie nicht getroffen.

»Alles gut.«

Aber nichts ist gut. Was auch immer in den letzten Minuten geschehen ist, nichts daran ist gut, nichts daran verspricht Erholung von diesem bahnbrechenden Chaos.

»Was macht der denn hier?«, fragt eine tiefe Stimme. Eine Stimme, die mir sehr bekannt vorkommt... Das ist doch... Nein, unmöglich. Zu dumm, dass es stockduster im Auto ist, sonst könnte ich ihn erkennen ... Auch wenn meine Vermutung mir alles andere als gefällt, mir alles anderr als zusagt.

»Braxton, hast du das eben nicht mitbekommen? Die haben auf uns geschossen! Da kann ich ihn doch nicht da zurücklassen!«

Braxton? Also doch nicht Mr. Onden; was mich aufatmen lässt.

»Wer sind die?«

Keine Antwort. Stattdessen führen sie ein Gespräch untereinander, es scheint von höchster Wichtigkeit zu sein muss. Was nicht heißt, das ich nicht endlich wissen will, was hier zur Hölle los ist. Es wurde auf uns geschossen.

»Wir haben aber keine Zeit mehr, verdammt! Die scheiß Übergabe wurde vorgezogen, als Sawyer spitzbekommen hat, dass Zachary dir nachstellt... -«

»Das mit dem Nachstellen ist doch deine Aufgabe.« Paige schnaubt und verschränkt die Arme vor der Brust.

»Ich bin euch gefolgt, weil du nicht an dein beknacktes Telefon gegangen bist! Wie schon gesagt, die Übergabe wurde vorgezogen! Sawyer will kein Risiko eingehen, immerhin braucht er dich ja lebendig. Nur hat Zachary ihr Vorhaben ebenfalls mitbekommen und plant irgendwas.«

Wer ist Sawyer?

Was für eine Übergabe?

»Kann mir mal bitte jemand erklären, was um alles in der Welt hier gerade abgeht?«

Wieder keine Antwort.

»Konntest du das FBI trotzdem so kurzfristig im Haus platzieren?«

Der Kerl antwortet stumpfsinnig mit: »Ja, hat alles geklappt «

FBI? Was zum ... Was ist denn los? Warum hat dieser Abend in den letzten Minuten eine derartige hundertachtzig Gradwendung hintelegt?

»Wir ziehen alles durch, wie geplant. Ich habe sie auch schon bereitgelegt und vorbereitet.«

Was?

Paige seufzt nur erleichtert. »Okay. Wenigstens etwas. Werden wir verfolgt?«

Der Typ - Braxton anscheinend- wirft einen prüfenden Blick in den Seitenspiegel. »Sieht so aus« Ich beuge mich zur Seite, schließlich erkenne ich es. Die Straßenbeleuchtung wirft Licht auf sein Gesicht. Sein Gesicht. Es ist doch Mr. Onden. Oh verdammt. Ich verstehe überhaupt nichts mehr. Will auch nichts mehr verstehen, weil ich keinen Sinn mehr darin sehe

»Paige... Was macht unser Professor am Steuer eines Wagens, der verfolgt wird, von Männern, die eben noch auf uns geschossen haben?«

Keine Antwort.

»Sein Bruder kann ihn nachher mitnehmen«, murmelt Mr. Onden oder Braxton oder was auch immer seufzend. Am liebsten würde ich aufstehen und ihn von hinten erwürgen... Moment. Wenn er hier ist, hat er vielleicht doch mehr mit Paige zu tun, als sie gesagt hat.

»Paige, du erklärst mir das jetzt, oder ich steige aus«, drohe ich, versuche mit mehr Nachdruck zu arbeiten.

»Kannst du ruhig, damit tust du uns einen riesigen Gefallen.«

»Du steigst nicht aus!«, herrscht Paige mich an, streicht sich eine Strähne hinter ihr Ohr, im laschen Versuch, Kontrolle über die Situation zu erlangen. Sie scheitert famos daran.

»Dann sag mir die verdammte Wahrheit«, erwidere ich mit so leiser Gefährlichkeit, dass sie einknickt. Sie senkt den Blick; denke ich, denn dann schüttelt sie kaum merklich mit dem Kopf.

»Lasst mich raus, ich gehe zu Fuß nach Hause.«

»Nein! Wir werden verfolgt, dir könnte sonst was passieren!«

Ich zittere vor Wut.

Braxton macht sogar Anstalten, anzuhalten. Die Geschwindigkeit des Wagens drosselt sich und mit einer leichten Schieferlegung des Lenkrads deutet er an, am Straßenrand halt zu machen.

»Du fährst weiter, Braxton. Und verriegle die Türen«, herrscht Paige ihn wütend an, wirft ihm einen Blick so gefährlich zu, dass er einer geladenen Waffe gleicht, mit der sie jederzeit bereit ist, tödliche Kugeln abzufeuern. Zum ersten Mal habe ich etwas wie Angst vor ihr.

Braxton gehorcht stumm und fährt weiter.

»Lass mich raus.«

Einfach rausspringen wäre mein Ersatzplan gewesen, welcher sich nun wohl erübrigt hat. Ich mahle meinen Kiefer, unterdrücke die Wut in mir, die danach fordert, auf etwas einzuschlagen. Endlich schaut Paige mir in die Augen. Ich packe alle meine Wut in den einen Blick, den ich ihr schenke, und versuche, sie nur mit eben diesem Blick dazu zu zwingen, mich rauszulassen. »Nein«, kommt es von ihr.

Wütend presse ich meinen Kiefer aufeinander, bis ich meine, ihn knacken zu hören. »Was geschieht hier gerade? Ich werde doch wenigstens das erfahren dürfen.«

»Nein, darfst du nicht«, dröhnt die tiefe Stimme des Kerls am Steuer. Ich balle die Hände wütend zu Fäusten. »Mit dir redet niemand.«

»Ich habe dich angelogen...«, beginnt Paige leise, kleine Tränen laufen ihr übers Gesicht, was mich innehalten lässt. Ich sehe mich um, in einem zu schnellen Auto, in dem wir vor etwas fliehen, das den ganzen Abend in eine unerwartete Richtung hat drehen lassen.

»Offensichtlich«, sage ich trocken, lasse sie nicht aus den Augen.

Paige will nach meiner Hand greifen, doch ich bin schneller und ziehe sie schnell weg. Sie schluckt, lässt sich jedoch nichts weiter anmerken, sondern setzt ihre Maske auf. Die, die sie stark aussehen lässt. Nur passt sie ihr nicht, sitzt schief, verzerrt ihr ganzes Auftreten.

»Ich bin nicht die, für die du mich hältst.«

»Paige... « Eine stumme Warnung liegt in Mr. Ondens Stimme. »Es spielt doch keine Rolle, wenn er es weiß.« Seufzend fährt sie fort.

»Mein Name ist nicht Paige. Das ist eine Lüge. Und das... -«, sie zeigt auf Mr. Onden. »... Ist kein einfacher Professor. Er ist mein Leibwächter, mein Beschützer.«

Ich keuche entsetzt auf. »Was?«

»Eigentlich ist mein ganzes Leben eine Lüge. Mein Dad... Besser gesagt, mein Nicht-Dad ist ein Waffenhändler und wir waren jahrelang auf der Flucht und... «

»Erzähl weiter.«

Und das tut sie. Die Geschichte, die sie erzählt klingt fernab ob der Wirklichkeit. Ich kann nicht glauben, dass das stimmen soll. Es klingt, als hätte ein schlechter Autor sie ausgedacht. Und jetzt gerade sind wir auf dem Weg zu ihr, um ihre Übergabe zu inszenieren, bei der das FBI unter dem Kommando meines Bruders beide Firmenchefs abführt. Nur ist ihr komischer Psycho-Onkel hinter uns her. Ich glaube wirklich, dass ich im falschen Film bin. Wer um alles in der Welt hat dieses Drehbuch abgesegnet?

»Du hast mich angelogen«, stelle ich nüchtern fest, als sie mit ihrer Erzählung endet. Angelogen. Nichts an ihr ist echt. Jede Geste, überzogen mit einer Lüge. Ihr ganzes Wesen ist unecht. Eine Lüge. Sie ist eine schillernde Lüge, die vor mir geschwebt ist und ich habe jedes Wort ihrerseits geglaubt.

»Nur bei dem nötigsten...«

»Bist du noch ganz bei Trost? Du hast mich in allem angelogen! In deiner Realität, deiner Vergangenheit in.... in allem ... Nichts davon war echt«, kommt es von mir, die Erkenntnis kommt Schlag auf Schlag und wird mit jedem Schlag schmerzhafter. »Du bist eine Lüge.«

Ein dumpfes Gefühl macht sich in mir breit, übernimmt meine gesamte Magengegend ... Ich sehe Paige vor mir, sehe sie in ihren seidenen Kleid. Eingekleidet in die schönsten Lügen und geschmückt mit den verdrehtesten Wahrheiten. Ich sehe ich sie, doch es ist nicht wirklich sie.

Paige - nein, nicht einmal der Name ist echt - macht wieder Anstalten, meine Hand zu greifen. Ich weiche von ihr zurück. »Fass mich bloß nicht an«, raune ich. Sie verzieht das Gesicht, als hätte ich sie gerade mit einer Peitsche geschlagen und kämpft wieder mit den Tränen. »Ich habe nie gelogen, was meine Gefühle betrifft.«

Ein bitteres Lachen entringt sich meiner Kehle. Ihre Gefühle seien echt. Dabei war alles, was je aus ihrem Mund kam, eine Lüge. »Was bringt mir das denn?«, frage ich sie, erschüttert darüber, dass sie ein verdammtes Phantom ist. »Vielleicht waren deine Gefühle echt, aber was ist mit meinen? Ich habe mich in ein Mädchen verliebt, das gar nicht existiert ... Paige Lopez ist nicht echt, genauso wenig wie alles, was ich dir jemals gesagt habe. Ich kenne dich nicht. Ich ... ich kenne nicht einmal deinen richtigen Namen ... Wer bist du, hm?«

Sie zuckt zurück. Genauso die ich zurückgezuckt bin, nach einer Lüge, die mich einen tiefen Abgrund hinuntergestoßen hat.

»Ace, du kennst mich! Du kennst mich, mich. Nicht die Person, die ich allen vorgetäuscht habe. Bei dir war ich immer ich selbst, jederzeit. Und in das Mädchen hast du doch verliebt. Diese Person hast du kennengelernt! Du hast hinter die Fassade geblickt, obwohl ich mich versucht habe, dagegen zu wehren! Du hast dich in die Person verliebt, die ich wirklich bin.«

Ich lache wieder bitter auf. Ironisch, nichts daran ist zum Lachen. Dann atme ich zitternd ein und aus und die Erkenntnis und der Schmerz dieses Vertrauensbruchs, dieser gewaltigen Lüge überwältigt mich förmlich. Namenloses Unheil - Paige ist dieses namenlose Unheil. Ich erkenne sie nicht wieder. Wer ist sie? Wer war sie, als ich sie geküsst habe, wie nie jemanden zuvor? Wenn ich sie zu den finstersten Abgründen meiner Seele geführt habe? Nur, damit die mich am Ende hinabstoßen kann.

Und ich falle, falle immer tiefer zu Boden, während ihr engelsgleiches Gesicht vor mir schwebt, sie ihre Maske abnimmt und ich den wahren Teufel dahinter erkenne.

»Wer auch immer du bist, dich liebe ich nicht. Ich liebe Paige. Nur hat Paige nie existiert.«

Denn das hat sie nicht, oder? Paige, wer bist du? Paige Lopez, der Name eines Phantoms. Wer war sie, bei mir, als sie niemand hätte sein müssen? Wer ist es, der hier vor mir steht?

Verzweifelt schluchzt sie auf. »Das stimmt nicht, Ace. Ich... Ich liebe dich!«

Liebe. Wie wahrhaftig kann Liebe sein, wenn sie auf dem Boden einer manifestieren Lüge gedeiht?

»Das ist ... Das ist zu viel für mich. Du hast mich die gesamte Dauer unserer... Beziehung... « Bei dem Wort muss ich auflachen. Zwischen zwei Liebenden wächst ein Band, das beide für immer miteinander verknüpfen soll.

Aber - unsere Pflanze ist doch auf dem Boden einer Lüge erwachsen; welchen Wert könnte dieses Band denn bestehen? Wenn es doch mit einem verrutschen Lächeln, einer aufgedeckten Wahrheit, in sich zusammenfällt. Wie ein verficktes Kartenhaus.

»Du hast mich die ganze Zeit nach Strich und Faden belogen, und dafür hasse ich dich.«

Entsetzt schnappt sie nach Luft. »Du hast gesagt, dass du mich niemals hassen könntest.« Ich fahre mir frustriert durch die Haare. Das habe ich tatsächlich gesagt und auch ernst gemeint. Aber es galt Paige, nicht dieser Fremden.

Sie trägt ihr Gesicht, die gleichen Lippen, die ich zuvor noch fiebrig küssen wollte. Und trotzdem sehe ich sie mit einem anderen Blick.

»Wir haben uns wohl beide angelogen.«

Paige schnieft und verbirgt ihr Gesicht in beiden Händen. »Es tut mir so unendlich leid, aber ich hatte keine verdammte Wahl! Glaub mir, so oft wollte ich dir die Wahrheit sagen aber ... Kennst du das, wenn du eine Lüge beginnst und du führst sie fort, bis sie mehr als ein Gerüst ist, bis sie eine Villa mit breiten Pforten und einem gewaltigen Eingang ist? Bis du in den Trümmern deiner Lügenvilla hockst und keinen Ausweg findest? Ich habe keinen Ausweg gefunden und wollte dich nicht verlieren.«

Unter ihrer gefallenen Maske blitzt Aufrichtigkeit auf, ich glaube ihr. Trotzdem ist es zu viel. Zu viel, um noch atmen zu können.

»Eigentlich heiße ich Raven, weißt du? Nur, damit du es weißt.«

Ein kleiner Trost, aber im Vergleich zu dem Berg an Lügen, den sie mir aufgetischt hat, ist es nichts. Raven. Kleiner Rabe, genauso schwarz wie ihr dunkles Haar und genau düster wie die Finsternis, in der sie mich mit ihrer Lüge treiben lässt.

Raven.

»Wenn das hier vorbei ist, wenn Caleb mich mitnimmt oder was auch immer ihr vorhabt, möchte ich dich erst einmal nicht wiedersehen, verstanden? Du bist ... echt das Letzte«, sage ich nur, ohne auf alles andere einzugehen.

Ich hatte keine andere Wahl.

Hat man die nicht immer?

Lügenvilla ... In den Trümmern stecken und keinen Ausweg finden.

Paige schüttelt sich vor Schluchzern. »Okay«, wispert sie leise. Dann wischt sie sich die Tränen weg und atmet tief ein und aus. Braxton - so heißt er eigentlich, auch wenn er immer mein Professor bleiben wird - mustert uns nur schweigend. Die ganze Konversation hat er angehört, ohne etwas weiteres dazu zu äußern. Er fährt auf einen Parkplatz am Rand der Straße.

»Wir müssen schnell sein, klar? Sie kommen gleich und sind bestimmt nicht unvorbereitet. Wir müssen auf alles gefasst sein und dürfen nicht damit rechnen, dass das Apartment sicher ist.«

»Gut«, sagt Paige und greift nach dem Türgriff, den Braxton zuvor wieder entriegelt hat. Vorher dreht sie sich noch ein letztes Mal zu mir. »Ich werde dich immer lieben. Vergiss das niemals.«

Oh ich könnte dich niemals vergessen. Nicht nach der Lüge.

Ihre Schritte entfernen sich, ihre Worte hallen noch nach, in meinem Kopf, und die Narben, die ihr Verrat in meine Haut geritzt hat, werden immer tiefer. Sie aus dem Wagen. Verschwindet. Aus meinem Leben. Ich sehe ihr dabei zu.

Soll ich jetzt hierbleiben?

Braxton steigt aus und klopft gegen meine Scheibe, als Zeichen dafür, dass ich den Hintern hochbekommen soll. Also steige ich aus. Er reicht mir eine Pistole. »Wo kommt die denn her?«

Er seufzt. »Ich habe mich vorbereitet. Eigentlich ist sie mein Ersatz, aber vielleicht ... Vielleicht wirst du sie brauchen.«

Die kühle Waffe wiegt schwer in meiner Hand. Kühles Metall, ausgerichtet, um zu zerstören, zu töten. Eine friedvolle Übergabe? Viel eher eine Hinrichtung.

»Ace?«, fragt er, als ich schon im Begriff bin, mich umzudrehen.

»Ja?«

Er druckst herum, ehe er spricht. »Sie hat dich wirklich geliebt.«

Schweigend fahren wir hoch in das dunkle Apartment. Braxton weist mich an, zu Caleb zu gehen. Er kauert in einem Zimmer, vielleicht ein Salon oder so. Reden darf ich nicht, ich will Caleb schon eine wütende Frage stellen, werde aber sofort zum Schwiegen gebracht. Indem er mir in den Bauch boxt. Ich sollte wütend sein, doch es zieht an mir vorbei.

Ich heiße den Schmerz willkommen. Er ist nur temporär, nicht wie der, den Paige hinterlassen hat. Dieser geht nicht vorbei.

Minuten vergehen, ob zehn oder zwanzig kann ich nicht sagen. So viel Zeit, dass man darin baden kann. Oder man ertrinkt in der Unwissenheit.

Auf einmal geht es los. Caleb sagt nichts, niemand sagt irgendwas, bis auf einmal ein lauter Schuss ertönt. Caleb runzelt die Stirn. »Scheiße«, murmelt er und rennt mit ein paar anderen bewaffneten Agenten aus dem Zimmer. Unsicher, was ich tun soll, folge ich ihnen mit einem kleinen Abstand. Immer mehr Schüsse ertönen, ein richtiges Gemetzel scheint in der Eingangshalle stattzufinden. Scheiße.

Was ist, wenn Paige irgendwas passiert? Ich bin zwar sauer und sie soll aus meinem Leben verschwinden - aber will ich wirklich, dass sie stirbt?

Nein, gottverdammt.

Die Panik verleiht mir Flügel und ich renne so schnell, als würde es um mein Leben gehen. Ein Schuss verfehlt mich nur knapp. Er zieht an mir vorbei, mental sowie körperlich.

Ich schieße mit Braxtons Waffe, zwar treffe ich vermutlich nichts, aber zumindest schreckt es ab. Hoffentlich treffe ich niemand unschuldiges. Ein weiterer Schuss zischt an mir vorbei, ich schieße zurück. Ein Agent schreit auf und geht zu Boden.

Fuck.

Ich sehe mich um. Aber ich entdecke Paige nicht. Dann erblicke ich etwas, eine schwarzhaarige Gestalt, die gegenüber einer anderen Person steht.

Und sie hält eine Waffe. Eine Waffe, ausgerichtet, um zu zerstören, zu töten. Eine Hinrichtung. Eine Hinrichtung, an der der Schwächere leidvoll zugrunde gehen wird.

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