I LIE TO YOU

By larellee

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Du kennst jemanden, wenn du weißt, wovor er sich fürchtet ... Ihr Lächeln zieht jeden in den Bann, seine Auge... More

Vorwort
Aesthetics
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Epilog
Nachwort + Dankesagung

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By larellee

Ace

Carnelian wird immer nerviger, desto mehr sie intus hat. Irgendwann im Laufe des Abends hat sie aufgehört, sich Jack Daniels mit Ginger Ale hinter die Birne zu kippen, nein, jetzt trinkt sie nur noch den Jack. Aus der Flasche. Wenn ich zuvor dachte, dass sie nicht mehr alle Tassen im Schrank hat, weiß ich spätestens jetzt, dass nie Tassen im Schrank standen, sondern aus dem Fenster geworfen wurden.

Und das Bedürfnis, mich ebenfalls aus dem Fenster zu werfen, wächst stetig. Ihre Wangen sind schon gerötet, die Lippen leicht geöffnet, die Pupillen sind groß und schimmern im Glanz der Deckenlampe.

»Ist euch auch so heiß?«, fragt sie und wischt sich über die Stirn.

»Nein«, sage ich knapp. Caleb grinst verschmitzt und sagt: »Wenn dir so heiß ist, solltest du dich wohl besser ein bisschen entkleiden, hm?«

Carnelian zwirbelt eine Haarsträhne um ihren Finger und grinst verwegen. »Sollte ich wohl, oder?«

Okay, das wird mir jetzt echt zu viel. Ich habe nicht das Bedürfnis, eine halbnackte Carnelian zu sehen.

»Wir können auch einfach noch einmal Eis essen, ein bisschen ist doch bestimmt noch übrig«, werfe ich hastig ein und laufe in die Küche.

»Habt ihr Rum? Wenn ja, kannst du mir ein bisschen auf mein Eis kippen?«, brüllt Carnelian aus dem Esszimmer. Ich kipp dir kein Rum auf dein dummes Eis, sondern Gift, denke ich grimmig. Diese Frau ist der Horror. Es ist nicht einmal um zwei Uhr nachmittags, und sie ist schon total besoffen. Das ist doch peinlich. Und Caleb findet das auch noch total scharf. Ich hole drei neue Schalen aus dem Regal und stelle mit Genugtuung fest, dass Caleb noch mehr zum Abwaschen hat. Ich helfe ihm bestimmt nicht.

Schwer seufzend versuche ich, die Eispackung auszukramen, die Caleb wahllos zwischen Erbsen und Fischstäbchen gequetscht hat. Ich rüttle an der Packung, doch sie steckt fest. Ich werde immer aggressiver und reiße weiter rum, bis ich fast die ganze Schublade aus der Tiefkühltruhe rausreiße. Die Packung Eis konnte ich zwar befreien, allerdings taumle ich nach hinten und krache von hinten gegen ein Gewürzregal.

»Was demolierst du denn da, Kumpel?!«, ruft Caleb mir zu. Ich antwortete mal lieber nicht.

Ich schließe die Tiefkühltruhe und widerstehe dem Drang, noch einmal dagegen zu treten. Dann fülle ich die Schalen mit dem Eis, zugegeben sieht es bei Weitem nicht so schön aus wie bei Caleb, aber es könnte mich nicht weniger kümmern. Mit den Schalen auf dem Arm balancierend, gehe ich zurück ins Esszimmer und knalle den beiden ihr Eis vor die Nase.

»Hey!«, empört Caleb sich. »Geh mal sorgfältiger mit meinem tollen Holztisch um! Der wurde erst neulich lackiert.«

Ich rolle mit den Augen und werfe ihm einen Blick zu, der eindeutig klar macht, wie sehr mir das am Arsch vorbeigeht. Carnelian macht große Augen und... ja, was genau macht sie eigentlich? Es ist fast so aus, als würde sie den Tisch streicheln.

»Ich wünschte, ich hätte so einen tollen Tisch«, haucht sie ehrfürchtig. Ich verkneife es mir, sie auszulachen. Aber mal ehrlich, wer kann bitte bei so einem...Wesen ruhig bleiben? Ich weigere mich, sie als einen Menschen zu bezeichnen. Sie muss von einem anderen Planeten stammen, oder sie ist ein misslungenes Forschungsobjekt.

»Wenn du erstmal hier wohnst, kannst du den Tisch jeden Tag begutachten.« Caleb zwinkert ihr zu und sie errötet. Wobei, sie hatte schon vorher gerötete Wangen, also kann ich nicht genau bestimmen, ob es wirklich von der Bemerkung kommt. Ich rede mir gut zu, dass Caleb das bestimmt nur gesagt hat, weil er selber total dicht ist. Ist er dummerweise nicht.

Er hat zwar ein Bier getrunken und ab und zu von Carnelians Jack gekostet, aber er ist bei weitaus mehr nüchtern. Also kann diese Bemerkung nicht auf den Alkohol geschoben werden. Leider. Schweigend löffeln wir unser Eis. Ich genieße die Stille in vollen Zügen, nur leider hält sie nicht lange an. Natürlich.

»Wusstet ihr, dass Carnelian der Name eines ockerfarbenen Halbedelsteins ist?« Carnelian blickt uns fragend an.

Woher sollte ich das bitte wissen? Warum sollte es mich überhaupt interessieren?

»Du bist mir sogar mindestens so viel wert, wie ein voller Edelstein.«

Ich rolle mit den Augen, und zwar so doll, dass sie mir fast aus den Augenhöhlen fallen und in mein Eis fallen, so genervt bin ich. Nur fast, leider. Sonst hätte ich sie wieder raus gepult und auf Carnelian geworfen. Vermutlich hätte ich sie nicht getroffen, immerhin wäre ich blind, aber sie hätte bestimmt trotzdem vor Schreck geschrien. Ja, wenn da ein augenloser Ace mit Augäpfeln auf sie wirft, das wäre bestimmt eine interessante Wendung an diesem Abend.

Aber gleichzeitig ist sie das auch nicht wert.

Caleb schleimt weiter rum und labert irgendwas davon, dass ockerfarben ja irgendwie wie Gold aussehen, und sie ja so goldig ist. Und wie wunderbar der Name zu ihr passt. Ist klar. Wenn der Name zu ihr passen sollte, müsste sie Mein Dorn im Auge heißen, oder Die Rache Gottes.

Mit einer eisernen Selbstdisziplin zügle ich mich und halte die Klappe.

»Und was bedeutet der Name »Caleb«? Ich finde Namen total interessant, müsst ihr wissen. Ich finde, sowas sollte an Schulen unterrichtet werden! Da würde der Unterricht sogar Spaß machen!«

Hier haben wir wieder einen typischen Kommentar eine betrunken Carnelian. Sie kann nicht mal mehr richtig reden, sondern brabbelt sich irgendwas in den Bart, weswegen ich echt damit zu kämpfen habe, sie zu verstehen. Wobei, Probleme beim Verstehen habe ich trotzdem, allerdings betrifft das eher den Sinn ihrer Worte.

»Stimmt, wer braucht schon Erdkunde oder Physik, die Schulen sollten lieber Namenskunde unterrichten, am Besten auch noch in Unis«, brumme ich sarkastisch. Aber irgendwie scheint die Gabe, Sarkasmus zu erkennen, bei Carnelian verlogen gegangen zu sein - oder sie war nie vorhanden -, sodass sie auch noch glaubt, dass ich das ernst meine.

Sie hebt ihr kristallklares Glas, in dem die bernsteinfarbene Flüssigkeit glänzt, und hebt es an, um mir zuzuprosten. Die Flüssigkeit im Inneren schwappt bedrohlich, als sie sich aufrichtet und das Glas mit einer schnellen Bewegung in die Höhe streckt. Allerdings ist schon zu wenig drin, also bleibt Calebs ach so geliebter Tisch verschont und nichts wird verschüttet.

Sie sieht fast so aus wie die Freiheitsstatue, nur eben mit einem Glas Jack in der Hand. Ihre Augen leuchten und machen der Lampe Konkurrenz, der Mund ist zu einem so breiten Grinsen verzogen, dass ihr Mund bestimmt gleich in der Mitte reißt.

Okay, nein, die Vorstellung ist echt absolut abscheulich, also vertreibe ich die Bilder, die mir sofort im Kopf schwirren, wie nervige Mücken.

»Ace, los! Stoß mit mir an!«, brüllt sie mir über das Ende des Tisches zu, völlig egal, dass uns nur eine Distanz von zwei Metern trennt.

Leider.

Ich wünschte, es wären zwei Kilometer. Oder zwei Ozeane. Ich hebe seufzend mein Glas Wasser und tue so, als würde ihr zuprosten.

»Nein, du musst schon herkommen! Unsere Gläser müssen aneinanderstoßen, sonst zählt es nicht!«

Ich will gar nicht wissen, was mit den Gläsern passiert. Erstmal werden sie bestimmt kaputt gehen, darauf habe ich herzlich wenig lustig, und zweitens habe ich noch weniger Lust, zu ihr zu gehen, auch wenn es nur zwei Meter sind.

»Hab keine Lust aufzustehen«, sage ich lahm und drehe mich zum Fenster. Ich wäre in wenigen Sekunden da und müsste es nur hochschieben... Bestimmt könnte ich rausspringen, bevor Caleb mein Vorhaben bemerkt... so würde ich den Schockmoment nutzen... Ich rufe mich wieder zur Vernunft, ich werde doch nicht wegen so einem lächerlichen Plagegeist in den sicheren Tod stürzen. Auch wenn ich ihn mir gerade wirklich wünsche.

Was ich bis dato noch nicht wusste, ist, dass Carnelian auch sehr stur ist und unbedingt ihren Willen durchsetzen muss. Also rafft sie ihr Kleid hoch und krabbelt über den Tisch, um zu mir zu gelangen. Sie hält mir ihr Glas vor die Nase und klatscht es mir auch zusätzlich fast ins Gesicht.

»Anstoßen! Anstoßen!«, kreischt sie mir ins Ohr.

Ich hebe wieder mein Glas an, sie stößt ihres gegen das Meine - erstaunlicherweise geht nichts kaputt -, endlich krabbelt sie auf allen Vieren wieder zurück. Und jetzt sagt Caleb natürlich nichts! Aber vermutlich ist er zu sehr damit beschäftigt, auf ihr Hinterteil zu glotzen. Das Kleid ist ihr ein wenig hochgerutscht und ich wende sofort den Blick ab.

Caleb klatscht in die Hände, dann höre ich das Schaben des Stuhls auf dem Holzboden. Ich zähle noch innerlich bis drei, ehe ich mich wieder umdrehe. Carnelian sitzt wieder auf dem Stuhl. Ich atme erleichtert auf.

Nach diesem Tag muss ich mich wohl in eine psychische Anstalt einweisen, dank ihr bin ich jetzt bis zum Ende meines Lebens geschädigt.

»Ace, hast du Lust mir beim Abwasch zu helfen?«

Was für eine Frage, auf gar keinen Fall.

»Ich kann dir auch helfen«, meldet sich Carnelian und rülpst laut. Angewidert drehe ich mich weg und werfe dem Fenster einen sehnsüchtigen Blick zu.

»Auf gar keinen Fall, du bist unser Gast.«

Kurz denke ich darüber nach. Wenn ich ihm nicht helfe, muss ich hier mit Carnelian sitzen und das will ich partout nicht. Also erhebe ich mich schnell und laufe in die Küche. Ich kann gar nicht schnell genug einen gebührenden Abstand zwischen Carnelian und mich bringen.

»Also, dass du so scharf auf abwaschen bist, wusste ich bisher noch nicht. Aber ich werde es mir merken«, sagt Caleb und kommt reingeschlendert.

Dann schließt er die Tür.

»So, jetzt hört sie uns hoffentlich nicht«, sagt er in einem zögerlichen Tonfall. Kurz bin ich platt, aber bestimmt meint er das nicht so, wie ich hoffe.

Denkbar wäre jetzt, dass er mir doch noch eröffnet, dass das alles nur ein riesengroßer Scherz war und er mich nur so richtig hochnehmen wollte.

Ach du dickes Eis, vielleicht will er mir auch nur anvertrauen, dass er Carnelian einen Heiratsantrag machen will. Gott bewahre.

Caleb sieht sich kurz überall um, beinahe als würde er erwarten, dass Carnelian ihm als Geist erscheint und durch die Küche spukt.

»Was meinst du damit?«, frage ich vorsichtig und lasse heißes Wasser ins Waschbecken laufen. Dazu gebe ich Spülmittel, allerdings ist das eine andere Sorte, als wir sonst nutzen. Ich inspiziere das Etikett genauer. Sinnliche Rose.

»Was ist das denn für ein Spülmittel?«

»Das ist von Carnelian.« Seufzend nimmt er mir das Spülmittel aus der Hand und kippt den restlichen Inhalt rein, schmeißt die leere Packung in den Müll.

»Bah, die Scheiße stinkt« Er öffnet einen Schrank und holt sich ein Glas raus. Dazu öffnet er eine Flasche Whiskey und genehmigt sich einen kräftigen Schluck.

»Die Frau kann man sich echt nur betrunken geben.«

Entgeistert mustere ich ihn von oben bis unten, sauge erleichtert Luft ein.

»Also heiratest du sie nicht?«

Erschüttert hebt er den Blick. »Sicher nicht.«

Er gluckst laut auf. »Ich habe dir doch mal von diesem Drogenhändler erzählt, erinnerst du dich noch? Ursprünglich war das einfach nur eine Gelegenheit, um endlich dort Fuß zu fassen. Allerdings hat sich der Wert für mich erhört, um Längen. Ich kann aufsteigen, hoch aufsteigen! Und das in der kurzen Zeit, in der ich beim FBI arbeite.«

Ich nicke leicht benommen. Typisch Caleb, will immer höher klettern, als er eigentlich kann. Das haben wir wohl gemeinsam. Durchaus keine schlechte Eigenschaft, allerdings mir in einem bestimmten Maße.

Denn desto höher man steigt, desto tiefer fällt man letzten Endes. Und ich kenne Caleb, er wird alles Menschenmögliche tun, um sein Ziel zu erreichen. Sonst wird er total am Boden zerstört sein.

Gelassen lehnt er sich an die Küchenzeile, macht allerdings keinen Finger krumm, um abzuwaschen.

»Carnelian hat jahrelang für ihn gearbeitet. Als eine Art Übermittlerin oder so. Sie hat die Ware gebracht und das Geld mitgenommen. Bis vor ungefähr einem Jahr, aber ich gehe davon aus, dass sie noch immer mit ihm in Kontakt steht. Keine Ahnung, vielleicht als seine Liebschaft oder so. Zumindest bezahlt er sie sehr gut, für eine Uni-Abbrecherin hat sie einen ziemlich gut bezahlten Bürojob. Und Junge, hast du mal ihre Wohnung gesehen?«

»Wie soll ich denn wissen, wie ihre Wohnung aussieht?«

Er zuckt mit den Schultern. »Wie auch immer, ich will an Informationen rankommen. Nur ist sie wie eine verdammte Glucke.« Er seufzt.

Fassungslos starre ich ihn an. »Also benutzt du sie nur?«

»Ich bitte dich, du kennst mich.«

»Du bist so ein Arschloch.«

Breit grinsend schaut er zu mir, weder Reue noch Schuld liegen auf dem Schlachtfeld seines Gesichts, auf dem mehr Kämpfe ausgetragen wurden, als ich zählen kann. Achselzucken, eine gleichgültige Miene. »Ich weiß.«

Sie könnte einem fast schon leidtun. Mein Handy klingelt in meiner Hosentasche. Ich trockene meine Hände mit einem Geschirrhandtuch und will schon rangehen, als das Klingeln verstummt.

Das Display leuchtet auf und mein Bildschirmschoner, ein Bild von Paige, leuchtet auf.

»Wer ist das denn?«, fragt Caleb neugierig und reckt den Kopf in die Höhe, um einen Blick auf mein Handy zu werfen.

»Das... Das ist Paige« Grinsend fährt er sich durch die Haare und kommt auf mich zu. »Deine Freundin? Zeig mal.«

Er nimmt mir das Handy aus der Hand, er erstarrt. Er schaut mich seltsam an, er schaut wieder auf das Telefon.

»Ich muss los, mir ist etwas Wichtiges eingefallen. Muss noch ins Büro. Ich bringe Carnelian weg, du erledigst den Abwasch.«

»WAZ-«

Schon hat er die Tür weit aufgerissen und stürmt durch den Flur. Verdattert schaue ich ihm hinterher.

Paige

Braxton atmet tief ein und aus, schließlich faltet er die Finger zu einem Dreieck in seinem Schoß. »Dein Da-... Er hat mir heute eine Akte mitgebracht. Mit Anweisungen, sogar sehr präzisen und bestimmten Informationen.«

»Was für Informationen? Was für Anweisungen? Rede doch mal mit mir und lass dir nicht alles aus der Nase ziehen!«

Er lehnt sich zurück in den Sessel und starrt aus dem Fenster. Er sieht aus, als würde er mit sich ringen oder nach Worten suchen, allerdings sieht es im Moment nicht so gut mit meiner Geduld aus. Frustriert reiße ich die Hände in die Höhe und stoße einen tiefen, heftigen Seufzer aus.

»Erde an Braxton! Wir haben bestimmt nicht ewig Zeit!«

Braxton steht auf und geht auf den großen Schreibtisch zu. Ich stehe ebenfalls auf. »Bleib sitzen«, weist er mich an.

»Ähm, nein?«

Was hat er vor?

»Ich tu dir nichts.«

Ich musterte ihn nur, ehe ich sage: »Mag sein, trotzdem kann ich nicht wissen, ob ich dir vertrauen kann, wenn du nicht mit der Wahrheit rausrückst.«

Er schüttelt nur lächelnd mit dem Kopf, was mich allerdings nur noch mehr verwirrt. »Ich wollte nur mein Handy holen. Ich muss jemanden anrufen und währenddessen hole ich die Akte. Sie liegt noch in der Bibliothek.«

Ich kneife die Augen zusammen und bedenke ihn mit forschen Blicken. »Wenn du irgendwas versuchst...«

Er stöhnt. »Ich zeige dir die Akte, ja? Ich hole sie.«

Mit den Worten marschiert er aus dem Zimmer, lässt die Tür aber offen. Ich nutze die Gelegenheit und schaue mich um. Das ist Braxton und ich kann ihm vertrauen. Zumindest rede ich mir das selber ein. Aber vielleicht telefoniert er ja auch mit Dad? Vielleicht ist das ja ein Hinterhalt und seine tollen Anweisungen in der Akte schreiben ihm vor, genau das zu tun.

Ich greife nach einem vergoldeten Briefbeschwerer, der schwer in meiner Hand wiegt. Vielleicht kann ich Braxton damit verletzen, insofern er doch etwas plant... Schnell verstaue ich ihn der Tasche meines Kapuzenpullovers und lasse mich wieder in den Sessel fallen. Ich starre auf die graue Wolkendecke und warte angespannt ab.

Schwere Schritte hallen im Flur und es schließt sich die Tür mit einem leisen Klicken. Ich stehe ruckartig auf. Braxton zieht die Augenbrauen hoch und mustert die kugelförmige Wölbung des Briefbeschwerers. »Vermutlich hätte ich damit rechnen müssen, dass dir das ziemlich verdächtig vorkommt.«

»Was meinst du?«, frage ich scheinheilig und verberge den Briefbeschwerer in der Tasche, indem ich meine Hände davorlege. »Ach komm schon, du hast dir meinen Briefbeschwerer als Waffe genommen, ich habe ihn gesehen.«

Ich zucke ahnungslos mit den Schultern. »Ich habe einfach zu viel Kuchen gegessen.«

Braxton schnaubt. »Ja klar. Aber gut, was hätte ich denn anderes erwarten können?«

»Ganz genau, kein Vertrauen ohne Antworten.«

Er lässt sich auf den Sessel neben mir fallen und bedeutet mir mit einer wedelnden Handbewegung, mich ebenfalls wieder zu sitzen. Ich folge dem stummen Befehl. Er öffnet die Akte und schluckt. »Der Mann ist nicht dein Vater.« Das ist alles, was er sagt. Ich will nach Luft schnappen, doch es fühlt sich an, als hätte mir jemand alle Luft zum Atmen aus den Lungen gepumpt.

Ich fasse mir an den Kopf und lache. Ein lautes, hysterisches und ungläubiges Lachen entweicht meiner Kehle.

»Warum... Warum überrascht es mich überhaupt nicht... Müsste... Müsste ich nicht geschockt sein oder so?«

Ich bin sogar erleichtert, dass dieser ekelhafte Kerl nicht mein Vater ist. Aber gleichzeitig habe ich ja ein Leben voller Angst und Gefahren für nichts und wieder nichts gelebt.

»Naja... Es erklärt immerhin so einiges, oder?«

Ich nicke, denn das tut es, doch dann schüttle ich abrupt mit dem Kopf. »Meine Mutter... ist sie... Sie muss meine Mutter sein.«

Wenn er mit jetzt weismachen will, dass sie nicht meine Mutter ist... Nein. Das lasse ich nicht zu! Braxton blättert durch die Alte, bis er an einer bestimmten Seite ankommt. »Ist sie auch. Dein Dad ist einfach nur nicht dein Vater.«

»Wer dann?«

Braxton seufzt. »Sawyer Telum. Genau, Telum.«

»Dads Feinde«, hauche ich. Oder besser gesagt, Isiahs Feinde. Er ist ja nicht mein Dad. Angeblich. So ganz kann ich das doch nicht glauben. Braxtons leichtes Kopfnicken bestätigt mich. »Aber warum hat sie bei Dad gelebt? Das macht doch keinen Sinn«, frage ich ihn und spiele nachdenklich an dem Anhänger meines Armbandes. Dieses Armband hat Mom mir vor Jahren geschenkt. An ihm baumelt eine kleine Flamme. Weil ich früher so aufbrausend war. Schön zu sehen, wie sich einige Dinge nie ändern.

»Die beiden hatten früher einen Deal, das weißt du ja, oder?«

»Mom und Dad?«

»Nein, Sawyer und dein Dad. Also dein Nicht-Dad. Isiah halt.«

»Achso, okay. Ja, das wusste ich.«

Braxton fährt fort. »Der Deal ist geplatzt und als Rache hat dein Dad, Isiah, deine Mom... entführt. Naja, mehr oder weniger. Sie ist freiwillig mitgegangen.«

Es ist ungewohnt, den Namen meines Dads zu hören. Wobei, er ist nicht mein Vater. Er ist einfach nur Isiah. Und Onkel Zachary auch nicht mein Onkel.

»Zumindest dachte Isiah das. Allerdings hat sie sich ab und zu mit Sawyer, also deinem richtigen Das getroffen. Bei einem der Treffen bist du halt entstanden.«

»Das schienen ja schöne Treffen zu sein«, murmle ich und lache bitter. Einfach so nebenbei erwähnt er, dass Mom den Kerl betrogen hat, den ich als mein Vater gekannt habe. Aber gut, sie hat ihn anscheinend auch nie geliebt. Trotzdem, mein Bild von Mom verändert sich immer mehr. Was habe ich noch alles nicht gewusst?

»Sie war so etwas wie eine Spionin, falls man das so nennen kann. Sie hat verdeckt Informationen gesammelt und an Sawyer weitergegeben. Bei dem Überfall in eurem Haus, als deine Mutter erschossen wurde, solltet ihr beide eigentlich zurückgeholt werden. Nur ist da etwas gehörig schiefgelaufen.«

Das kann man wohl sagen...

»Das ist Bullshit...Warum sollte Sawyer sie denn töten?!«

»Der Schuss kam nicht von ihm. Der Schuss kam von Isiah. Er muss irgendwie die Wahrheit herausgefunden haben. Der Schuss halt nie deiner Mom. Er galt dir. Nur hat deine Mom sich vor dich geworfen.«

Schuldgefühle machen sich in mir breit. Eigentlich hätte ich tot sein sollen. Und Mom ist nur für mich gestorben. Schweigend starre ich aus dem Fenster. »Deswegen will er mich so einfach ausliefern. Aber warum erst jetzt?«

»Er bekommt irgendwas dafür. Als Tausch.«

»Ich will die Akte sehen«, sage ich und greife nach der lächerlichen Mappe, die ernsthaft mein ganzes Leben kopfstellt. Allerdings wurde mein Leben schon einmal kopfgestellt, vielleicht ist es jetzt nur wieder richtiggestellt worden? Ich verstehe es nicht. Einerseits schon, alles ergibt Sinn aber auf der anderen Seite ist jetzt alles nur noch verworrener. Ich blättere durch die Akte und lese mir die Anweisungen durch. Am Montag soll also schon die Übergabe sein.

Braxton soll mich einfach nur in den Flur locken und ich werde über das Dach mit einem verdammten Helikopter abgeholt. Dramatischer geht's wohl nicht mehr. Tja und was danach passiert, steht wohl in den Sternen. Aber ich will nicht bei diesem fremden Mann leben!

»Vielleicht ist es ja besser so...«, meint Braxton. Ich werfe ihm die Akte auf den Schoß und springe auf. »Das kann nicht dein verdammter Ernst sein! Ich lebe doch nicht bei einem Fremden! Wir müssen das anders klären.«

Braxton grinst breit und tippt auf seinem Handy rum. »Das ist gut so.«

Verwirrt drehe ich mich zu ihm. »Was hast du vor?«

»Bei den Nachforschungen über diesen Ace... «

»Du meinst, in deinem Stalking-Wahn?«, unterbreche ich ihn mürrisch. Er antwortet: »Genau. Jedenfalls, dein toller Ace hat einen Bruder. Der beim FBI arbeitet. Und ich habe schon seit längerem vor, deinen... - Isiah und sein Netzwerk hochgehen zu lasse. Seit Madrid. Allerdings war ich mir nicht sicher, ob du auf meiner Seite wärst, immerhin ist, besser gesagt war er dein Vater. Die gute Ana wurde auf dich angesetzt, weißt du? Ich habe mich mit ihnen... wir helfen einander.«

»Also arbeitet Ana als Agentin und sollte mich im Auge behalten? Und weil du vorhattest, dich zu verkrümeln, dachtest du dir, verbündest du dich mit ihr?«

Braxton seufzt. »Das FBI will beide Firmen aufgrund der illegalen Machenschaften schon lange dingfest machen. Wir liefern denen die Informationen die sie brauchen, sie positionieren Verstärkung im Apartment und wenn Sawyer und Isiah zur Übergabe kommen, werden sie festgenommen. Ganz einfach. Wir sind frei und können tun, was immer wir wollen.«

»Das klingt gut... Aber was ist mit Onkel... Ich meine Zachary?«

»Das weiß ich nicht«, sagt er zögerlich.

»Aber würde er ...«

Braxton greift nach meiner Hand und drückt sie. »Ich weiß. Caleb ist gleich da und wir überlegen uns etwas, einverstanden? Wir kriegen das hin. Aber es gibt eine Sache, die du noch wissen musst.«

Ich entziehe ihm meine Hand. »Was denn?«

»Ich habe nachgeforscht. Logisch. Du erinnerst dich wahrscheinlich noch an den Vorfall auf der Party. Mit Brian Cornwall?« Natürlich, wie könnte ich den bitte vergessen?

»Ja, ich erinnere mich«, sage ich nüchtern. »Warum?«

Braxton holt tief Luft. »Weil Brian Zacharys Sohn ist. Brian sollte sich mit dir anfreunden, dir nahekommen, aber das hat augenscheinlich nicht geklappt. Also hat Zachary diese Racheaktion geplant, um dich daran zu erinnern, wer hier die Fäden in der Hand hält.«

Mir fehlt die Luft zum Atmen. Ich glaube es wirklich. Ich will Luft schnappen, aber da ist keine. Stattdessen stürze ich in eine bodenlose Tiefe, die keinen Namen trägt, keinen Bestand hat. Ich kann nicht schreien, sondern kralle meine Fingernägel ins weiche Polster des Sessels.

»Und wann hättest du mir das mal gesagt?«, frage ich noch immer nach Luft ringend. Aber da ist dieser immense Druck auf meiner Lunge, der es mir so schwer macht.

Braxton steht auf und läuft zum Fenster. Nachdenklich schaut heraus. »Es war nicht schon so früh angedachten, Isiah hat mich völlig überrumpelt. Aber das ist nichts Schlechtes, es ist sogar großartig, weil wir gleich beide in einem Raum haben. Die Gelegenheit ist perfekt. Wir wären frei!«

Ich haue wütend auf die Sessellehne. »Zachary läuft da noch rum! Du hast selber gesagt, dass er völlig auf Rache aus ist!«

Braxton seufzt. »Wir klären das mit Caleb. Wir lassen uns etwas einfallen.«

Fast zeitgleich öffnet sich die Tür. Ich werfe den Kopf zu ihm und mustere ihn von oben bis unten. Die gleichen eisblauen Augen scannen den Raum ab, die Lippen die denen von Ace so gleichen sind zu einer geraden Linie gepresst.

»Warum hat er den Zugangscode?«, frage ich an Braxton gewandt. »Ist nicht das erste Mal, Kleine. Schön dich endlich kennenzulernen.«

Er geht auf mich zu und reicht mir die Hand. Perplex schüttle ich sie. Er setzt sich neben sich und schaut zwischen Braxton und mir hin und her. Es gibt keine Zweifel, dass er Ace Bruder ist. Sicher, er hat eine andere Haarfarbe, seine Haare sind haselnussbraun, aber die Gesichtszüge sind ein und dieselben. Und mit seiner Anwesenheit, beginnt auch das letzte Puzzleteil, an seinen Platz zu rücken.

»Weiß sie alles?«

»Ja.«

»Es gibt nur eine Möglichkeit, Zachary zu entfliehen«, fängt er an.

»Schieß los«, fordere ich gepresst und bereite mich mental auf eine Antwort vor, dessen Ausmaß ich nicht ertragen kann. Wie hoch ist der Preis meiner Sicherheit, den ich zahlen muss? Braxton greift Caleb Blick auf, sie halten aneinander fest. Ich erkenne etwas wie Wärme, etwas, das ich selten in seinem Mienenspiel beobachtet habe, doch es verschwindet sofort, als er seinen Blick von Caleb loseist und zu mir sieht. Er atmet ein, aus, spricht die Worte, die mein Schicksal besiegen.

»Du musst sterben.«

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