I LIE TO YOU

By larellee

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Du kennst jemanden, wenn du weißt, wovor er sich fürchtet ... Ihr Lächeln zieht jeden in den Bann, seine Auge... More

Vorwort
Aesthetics
Letzter Atemzug
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Epilog
Nachwort + Dankesagung

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By larellee

Ace

Mit offenem Mund starre ich sie an. Meint sie das Ernst? Ihre Fingerspitzen wandern durch meine Haare und ich dränge sie näher an die Tür. Ich rieche ihr Parfüm, spüre ihre angenehm warme Haut auf meiner. Am liebsten möchte ich sie überall berühren, jeden Zentimeter von ihr in Besitz nehmen und sie nie wieder loslassen - oder zumindest für den Moment.

Ein Moment, der sich in mein Gedächtnis brennt. Ich will sie, wie andere die Luft zum Atmen. Ihre Lippen. Die berauschende Sehnsucht.

Unsere Gesichter nähern sich, ihr heißer Atem streift meinen Hals. Unsere Lippen berühren sich, ganz leicht. Dieses Gefühl reicht aus, um das Verlangen in mir noch weiter zu bestärken. Bis wir von einer schrillen Stimme unterbrochen werden.

»Eww, Mummy! Da machen zwei große Kinder miteinander rum!«, ruft ein kleiner Junge. Was soll das, du kleiner Hosenscheißer? Irritiert schaut Paige zu mir und beißt sich auf die Lippe, um nicht loszulachen. Wir stehen noch immer eng beieinander, doch wie durch einen kalten Luftzug wurden die vorfreudigen Funken fortgeweht.

Der kleine Junge trägt einen blauen Pullover, der mit einem lächelnden Hai bedruckt ist. In der Hand hält er einen kleinen, ramponierten Hasen, der nur noch ein Auge hat. Gruseliges Kind.

Ich werfe ihm einen bitterbösen Blick zu. Er hat uns bei einer sehr wichtigen Sache unterbrochen, allein das ist ein Grund, ihn nicht zu mögen. Er erwidert meinen bösen Blick nur mit einem breiten Zahnlücken-Lächeln, das ihn wie die Grinsekatze höchstpersönlich lächeln lässt. Seine Mutter kommt auf ihn zu, dann fällt ihr Blick auf uns.

»Oh Entschuldigung, falls der Kleine sie belästigt hat. Mensch Cayden, du sollst doch nicht immer fremde Leute ansprechen!«, schimpft sie mit ihm. Die junge Frau streicht sich ihre blonden Locken aus dem Gesicht und lacht dann. »Oh je, irgendwann spricht er noch die falschen Leute an. Er nimmt einfach kein Blatt vor den Mund. Kinder«, seufzt sie theatralisch.

Kopfschüttelnd streicht sie ihm zärtlich durch das dunkelbraune Haar. »Mummy, die beiden wollten sich gerade ablecken«, sagt der kleine Scheißer vielsagend und gibt daraufhin Würgegeräusche von sich. Dann verschränkt er die Arme vor der Brust. »Das habe ich ganz genau gesehen!« Erschrocken keucht seine Mutter auf.

»Ich hoffe wirklich, du hast dein loses Mundwerk gehütet, kleiner Mann!«

Der kleine Junge kichert. »Natürlich, ich habe nur aufgepasst, dass sie sich nicht wirklich ablecken! Das darf man nämlich nicht.«

Paige lacht laut auf. »Du bist wirklich süß«, murmelt sie nachdenklich und betrachtet ihn eingehend. Süß? Was ist an diesem kleinen Bengel bitte süß? Er hat uns gerade unterbrochen! Die Mutter stimmt zögernd in Paiges herzliches Gelächter ein.

»Er ist sehr frech. Das lässt er sich aber auch nicht austreiben, egal was ich versuche!«

»Pah, das lasse ich auch niemals zu!«

Stolz reckt er sein Kinn in die Höhe. Naja, Willensstärke hat er wenigstens...

»Wie auch immer, Cayden. Entschuldige dich bitte, und dann müssen wir auch schon los.«

»Entschuldigung«, murmelt der Kleine. Dann rennt er vor, ohne sich umzudrehen.

»Noch einmal, es tut mir unendlich leid. Aber ich muss dann auch! Einen schönen Tag noch! Und Cayden, warte doch mal!«

Immer noch leicht lächelnd schaut Paige den beiden hinterher.

»So ein süßer Junge.«

Ich schnaube. »Was war denn daran süß? Er hat uns unterbrochen!«

»Was hast du denn gegen kleine Kinder?«, fragt sie leise kichernd.

»Gar nichts. Ich habe nur etwas gegen kleine Kinder, die Menschen bei... wichtigen Dingen stören.« Paige grinst mich an. »Ich finde ihn zum Auffressen. Er war so niedlich.« Ich finde ihn gruselig, aber ich sage nichts.

»Wie auch immer, lass uns reingehen.«

Schnell schließe ich die Tür auf und wir betreten den Flur.

»Zweiter Stock.«

Paige mustert die Treppe, geht aber nicht hoch. Ich drehe mich zu ihr. »Alles okay?«

»Hmm«, brummt sie nur, visiert die Stufen an und schätzt den Platz zwischen den Wänden ab, der keinen Platz für zwei Personen bietet.

»Wie schade, wir passen auf der Treppe nicht nebeneinander... Was bedeutet-«

Mit einem Satz springt sie die ersten Stufen hoch und drängt sich an mir vorbei. »Das du mich jetzt nicht mehr überholen kannst!«

Lachend läuft sie die Treppe hoch, unsere Schritte hallen laut im Flur wider. Dicht hinter ihr komme ich an. Wieder schließe ich die Tür auf, nur dieses Mal streikt der dämliche Schlüssel.

»Sorry, der lässt sich manchmal nicht umdrehen«, murmle ich konzentriert. Frustriert reiße ich ihm aus dem Loch und stöhne auf. Jetzt, wo es wirklich wichtig ist, kriege ich diese bescheuerte Tür nicht auf. Ich komme mir wie ein totaler Idiot vor. Der ich auch bin. Augenscheinlich. Paige nimmt mir den Schlüssel aus der Hand und versucht es ebenfalls. Vergeblich. Zum Glück.

»Was zum Teufel habt ihr für eine blöde Tür?«, fragt sie frustriert.

Von oben klackert Absätze auf dem Boden. Unsere Nachbarin, Mrs Devilic, kommt die Treppe gemächlich runtergeschlendert und schenkt uns einen seltsamen Blick. Kopfschüttelnd geht sie an uns vorbei. »Diese heutige Jugend, zu nichts mehr zu gebrauchen«, brummt sie vor sich hin. Paige wirft ihr einen giftigen Blick zu, den sie leider nicht mitbekommt. Wenn Blicke töten könnten, wäre diese Frau tot. Aber sowas von.

»Ace, du musst deine liebenswerte Nachbarin darüber informieren, dass sie ihren Hexenbesen in ihrer Wohnung vergessen hat. Wie will sie denn jetzt durch New York fliegen?«

Ihre laute Stimme hallt durch den Flur, ganz sicher hört auch Mrs Devilic sie. Von unten hört man nur noch ein eingeschnapptes Grunzen, dann wird eine Tür aufgerissen und lautstark zugeknallt. Aber wo Paige Recht hat, hat sie Recht.

Mrs Devilic sieht tatsächlich aus, wie eine Hexe. Mit den grauen, kurzen Haaren, der Warze auf der Nase und dem verkniffenen Gesichtsausdruck könnte sie auch locker als die grüne Hexe aus der fantastischen Welt von Oz durchgehen. Nur in alt und faltig. Ich versuche wieder, die Tür zu öffnen und - oh Wunder - sie öffnet sich tatsächlich. Nachdem ich an ihr rumgezerrt habe, bis sie dann doch nachgegeben hat. Zusammen gehen wir rein. Wir beide bleiben im Flur stehen.

»Du kannst deine Schuhe ausziehen.« Paige leistet der Forderung, oder Einladung oder was auch immer Folge und schlüpft aus ihrem Sneaker. Ich tue es ihr gleich.

»Hast du Hunger?«

Paige stimmt heftig zu. »Aber sowas von! Ich sterbe gleich!«

Ich lache auf, mir geht es nicht anders. Allerdings habe ich nicht nur Hunger auf Essen, sondern auf eine ganz andere Art von Versüßung. Das sage ich ihr natürlich nicht.

»Tja, ich kann nicht kochen. Soll ich uns einfach belegte Brote schmieren?«

Paige nickt. »Belegte Brote klingen toll.«

»Irgendwelche Wünsche für den Belag?«

Paige überlegt kurz. »Nö, überrasch mich.«

»Schau dich ruhig um.«

Schnell hole ich Brot raus und schneide einige Scheiben ab. Stirnrunzelnd betrachte ich das fertige Endprodukt. Die Scheiben sind viel zu dick geworden, aus Angst, dass sie doch zu dünn werden und zerfallen. Egal. Ich hole allen möglichen Belag raus und klatsche ihn wahllos auf die Brotscheiben.

Dann lege ich sie alle auf einen Teller und gehe ich mein Zimmer. Paige sitzt in der Mitte des Zimmers auf dem Boden.

»Na, gemütlich?« Mein Blick schweift zu meinem Bett, auf dem sie auch hätte Platz nehmen können. Ich bin dankbar, ein einigermaßen ordentlicher Mensch zu sein, alles andere wäre in diesem Moment einfach nur peinlich.

»Jap, und jetzt komm endlich her, ich brauch unbedingt was zu beißen!« Ich setze mich zu ihr und lege den Teller zwischen uns. Verstört schaut sie zuerst zum Teller und dann zu mir. Immer so weiter, schlägt sich die Hand vor den Mund und bricht in schallendes Gelächter aus. »Wer soll denn bitte acht Scheiben Brot essen? Guck mal, wie dick die sind?«

»Aber du hast doch gesagt, dass du Hunger hast?«, frage ich verwirrt.

»Naja, wie auch immer.«

Mit den Schultern zuckend nimmt sie sich eine Brotscheibe und beißt rein. Schweigend essen wir.

»Sag mal, wollen wir uns jetzt eigentlich die ganze Zeit anschweigen?«, fragt sie und hebt belustigt eine Braue.

»Mit dir kann man ganz gut schweigen.«

»Mit dir auch.«

»Wer wohnt hier eigentlich noch? Also weil...«

»Mein älterer Bruder.«

»Und studiert er?«

Ich schüttle mit dem Kopf. »Nein, er arbeitet beim FBI.«

Paige verschluckt sich und hustet. Hastig klopfe ich ihr auf den Rücken, allerdings etwas zu kräftig. Sie stöhnt leicht auf. »Hast du Steine als Fäuste oder was?« Lachend isst sie weiter.

»Und bei dir? Hast du Geschwister?«

Sie wirkt sofort leicht betrübt. Vielleicht rührt ihr Entzücken über den kleinen Hosenscheißer ja daher? »Nein, leider nicht. Ich hätte gerne eine kleine Schwester. Oder einen kleinen Bruder. Hauptsache irgendwas Kleines.«

Ich kann ihr nur beipflichten, große Brüder können so unglaublich ätzend sein und ich hatte noch einen der ganz schlimmen Sorte abbekommen. »Ich auch. Also, einen kleinen Bruder.«

»Und ich möchte gerne Kinder haben. Am liebsten zwei. Ein Junge und ein Mädchen. Und du?«

»Zehn«, meine ich einfach so, nur um ihre Reaktion abzuwarten. Ihre Augen weiten sich und sie sieht mich entgeistert an.

»Was? Zehn Kinder?«

Ein Mienenspiel aus den verschiedensten Emotionen huscht über ihr Gesicht und ich schaue sie so ernst an, wie nur irgend möglich, auch wenn ich es absolut nicht ernst meine.

Mit offenem Mund starrt sie mich an. »Deine Arme Frau! Die ist ja dann nur eine Kindermaschine!«

Ich lache laut auf.

»Das war ein Scherz! Um Himmels Willen, zehn Kinder? Nein, so viele möchte ich dann auch nicht haben. Mir reicht ... Eins, höchstens.«

Erleichtert atmet sie auf. »Gut so. Wenn das dein Ernst gewesen wäre, hätte ich sofort das Zimmer verlassen!«

Ich lache, bis mir das Ausmaß dieses Satzes klar wird. Ihr scheint es ebenso zu gehen.

»Ace...«, murmelt sie leise. Ich liebe es, wie sie meinen verdammten Namen ausspricht.

»Ich habe das Gefühl, ein Spiel zu spielen, bei dem wir beide zu hundert Prozent verlieren würden«, gesteht sie.

Ich rücke näher an sie ran und fahre mit meinen Fingerspitzen über ihren nackten Arm. Sie schaudert und bekommt eine Gänsehaut. Ich beuge mich zu ihr runter, meine Lippen streifen ihre Wange. Ihre Wange glüht und ist gerötet. Sie zittert ein wenig und am liebsten würde ich mit meinen Lippen zu ihrem Mundwinkel wandern...

»Wäre es schlimm, zu verlieren?«, frage ich an ihr Ohr. Spürt sie es auch? Dieses körperliche Verlangen? Ich will es nicht, gleichzeitig will ich es auch zu sehr. Meine Hände gehen auf Wanderschaft, wie Zugvögel im Winter wandern sie immer weiter gen Süden, machen halt, warten abwartend. Paiges Atem geht unregelmäßig und ich liebe es zu beobachten, welche Wirkung ich auf sie habe.

»Das kommt auf den Spieleinsatz ein«, wispert sie und biegt sich fast schon einladend meinen Bewegungen hin. Ein wohliges Seufzen entkommt ihrem verführerischen Mund, der mich Dinge mit ihr anstellen lassen will, die jenseits aller Vorstellungen sind. »Und was ist der Spieleinsatz?«, frage ich sie. Meine Finger fahren weiter hinab zu einer Stelle, die sie laut Aufkeuchen lässt. Dann beginnt ihr Handy zu klingeln.

Paige

Wie zu einer Salzsäule erstarrt bleibe ich sitzen. Keiner sagt ein Wort. Peinlich berührt beiße ich mir auf die Lippe. Warum zum Teufel werden wir immer gestört? Und dazu habe ich noch den bescheuertsten Klingelton aller Zeiten! Keiner von uns rührt sich, allerdings muss Ace sich das Lachen eindeutig verkneifen. »Was ist daran so lustig?«

Jetzt ist es endgültig um ihn geschehen, er prustet lautstark los. Ich werfe ihm einen bösen Blick zu. »Keine Ahnung, irgendwie scheint dieser Tag nicht unter den besten Sternen zu stehen. Und dein Klingelton... Was zum Teufel ist das?« Ich seufze nur und fische mein Handy aus der Hosentasche. Braxton. Verdammt.

»Und wer ist es?«

Wieder setzt das Klingel ein, nur erschrecke ich mich dieses Mal so sehr, dass mir das Handy glatt aus der Hand gleitet.

»Mist!«

»Geh ran, ist schon okay.«

Ich schweige nur und hebe es auf. Gott sei Dank hat es keinen Riss im Display, das hätte mir definitiv den Rest gegeben. Schnell nehme ich den Anruf an.

»Was ist?« Meine Stimme klingt ein wenig ungehalten, aber bei weitem nicht so wütend, wie ich eigentlich bin. Nicht nur, dass wir bei unserem Kuss gestört wurden, nein, jetzt muss Braxton auch noch seine bescheuerten Kontroll-Anrufe machen.

»Ach, bist du noch beschäftigt?«, fragt er provozierend.

»Ja, bin ich. Und du störst gerade.«

Und dass ist noch eine Untertreibung.

Er seufzt an den Hörer. »Wie auch immer. Ich habe deinen Vater erreicht, du wolltest ja mit ihm reden. Also komm nach Hause, außer du willst weiter mit Ace ... abhängen.«

»Ich kann ihn auch von hier aus anrufen. Immerhin hat er ein Telefon«, erinnere ich ihn erbost über seinen seltsamen Unterton. Entschuldigend schaue ich zu Ace. Er nickt nur verständnisvoll. Ich hoffe, dass er Braxton nicht hören kann, auch wenn ich extra auf den Lautsprecher verzichtet habe und somit selber merklich Probleme habe, Braxton zu verstehen, der nicht richtig in den Hörer spricht.

»Nein, das geht nicht. Er ist zu Hause. Und wartet auf dich«, sagt er unnachgiebig.

»Wie jetzt? Das ist doch völlig riskant!«

»Nein, das war geplant. Und jetzt komm endlich nach Hause.« Sein Befehl macht mich stutzig. Sehr stutzig sogar. Die drängende Art, mit der er redet, die Festigkeit seiner Stimme, die einem Widerspruch mehr als nur abgeneigt scheint. Braxton und ich waren nie mehr als Freunde - zu keinem Zeitpunkt. Außerdem hat er diese Professorin, an der er offensichtlich interessiert zu sein scheint. Warum benimmt er sich dann so rätselhaft?

Irgendwie weiß ich die Antwort schon. Ich bin kein vollends zurückgebliebener Mensch. Gut, in vielerlei Hinsicht schon, aber nicht in dieser. Wenn sich in einem Buch die Protagonistin über das mehr als skurrile Verhalten eines potenziellen Love Interests wundert, versteht sie den Wink nie.

Das mag ein eventuell hartes Urteil sein, aber in Büchern scheinen die Protagonisten nie irgendetwas zu raffen und der Prozentsatz an Charakteren, die in solchen Situationen nicht einmal annähernd wissen, was los ist, ist unglaublich hoch. Ich kann mir denken, was Braxtons Verhalten zu bedeuten hat. Wäre es tatsächlich möglich, dass er eifersüchtig ist? Dabei ist es lachhaft, weil wir immer nur Freunde waren.

Ich erinnere mich an eine Umfrage der amerikanischen Kommunikationsforscherin Heidi Reeder zu Freundschaften zwischen Mann und Frau. Rund achtundzwanzig Prozent der Befragten sagten, dass sie ihren besten Freund oder ihre beste Freundin durchaus körperlich anziehend finden. Etwa vierzehn Prozent hofften insgeheim, dass mehr daraus werden würde. So abwegig ist es doch nicht.

»Okay, kannst du ihn bitte kurz an den Hörer holen?«, frage ich Braxton.

Die Leitung bleibt still. »Alles okay? Bist du noch dran?«

»Ja klar. Dein Vater ist gerade auf Toilette.«

Ich lege die Stirn verwundert in Falten. Das ist wirklich ein schlecht ausgeklügelter Plan. »Okay? Sonst kann ich ja auch kurz warten, kann ja nicht so lange dauern.«

»Nein, nein. Also, er hat Durchfall. Das dauert bestimmt noch ein bisschen.«

Ich rolle mit den Augen. Ja klar.

»Hör mal, was wird das hier? Du glaubst doch nicht, dass ich dir das ernsthaft abkaufe! Für wie blöd hältst du mich eigentlich?!«

»Paige, komm einfach nach Hause. Jetzt«, knurrt er wutentbrannt. Sein nahezu besitzergreifendes Verhalten geht mir gegen den Strich. Ich bin kein verdammtes Spielzeug, dass er nach Belieben herumschubsen kann.

»Nein! Wozu denn?«

»Dann komme ich, und hole dich persönlich ab! Aber das wird nicht so angenehm ausgehen, schon gar nicht, wenn ich deinen tollen Ace sehe.«

Okay, das will ich wahrlich nicht.

»Schön«, fauche ich kalt, »Aber lass dir versichert sein, dass ich das absolut scheiße von dir finde. Der einzige Grund, wegen dem ich das wirklich tue, ist, weil ich weiß, wie du bist, wenn du wütend bist.«

»Gut so.« Dann legt er auf. Der kann aber was erleben, wenn ich im Appartement bin!

»Ace, ich muss leider gehen...«

So gut es geht, versteckt er seine Niedergeschlagenheit, doch ich habe mein ganzes Leben mit Lügen verbracht, mit Vertuschungen und hässlichen Maskeraden – ich weiß genau, wann jemand lügt oder etwas vorgibt, und wann nicht. »Dachte ich mir schon. Wer war das überhaupt?«

»Äh, meine Cousine. Ich wollte mit meinem Onkel reden, weil er krank ist. Oder war. Keine Ahnung. Und meine liebreizende Cousine wimmelt jeden ab, der nach ihm fragt. Jedenfalls ist sie hier, in New York. Und ich muss mit ihr reden.«

Die Lüge hinterlässt einen unangenehmen Nachgeschmack. Und ich bin angewidert von mir selbst, weil mir die Lüge so leicht über die Lippen ging. Vermutlich ist mir das Lügen schon ins Blut übergegangen. Ich lüge ihn so leicht an, wie er atmet. Lügen hat mich nie gestört. Bis jetzt.

»Oh, das tut mir wirklich leid für dich. Dann... ähm... solltest du vermutlich wirklich gehen.« Nervös fährt er sich durch sein unglaublich weich aussehendes Haar. Wie luftig leichte Wolken, in die ich am liebsten versinken würde. Schnell verscheuche ich den Gedanken. Ich habe immerhin noch Zeit.

Oder?

»Danke für dein Verständnis, du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr mich das erleichtert. Ich dachte schon, dass du sauer wirst oder so. Auch wenn ich das vollkommen verstanden hätte.« Er steht auf, um mich zu verabschieden. »Ich bin dir nicht böse, im Gegenteil. Die Zeit mit dir - auch wenn sie kurz war - war schön.« Ich wünschte, wir hätten noch viel mehr Zeit, denke ich sofort.

»Und wir holen das nach. Versprochen. Und ich erfülle meine Mission noch«, sage ich und drücke seine Hand. Er lächelt mich liebevoll an. Eigentlich könnte ich ihn auch jetzt küssen. Aber danach müsste ich sofort gehen, das will ich nicht. Vielleicht kann ich ja gar nicht mehr aufhören, ihn zu küssen.

Trotzdem gestatte ich es mir, ihm einen hauchzarten Kuss auf die Wange zu geben. Allein diese kleine Berührung fühlt sich wie tanzende Sterne auf dem Rot meiner Lippen. Was für eine Himmelsexplosion ein ganzer Kuss wohl anrichten kann? Im Versuch, diesen Gedanken zu verdrängen, drehe ich mich um und gehe aus dem Zimmer.

»Bis morgen!«, rufe ich ihm noch über die Schulter hinweg zu. Ich schnappe mir meinen Rucksack, schlüpfe in meine Sneakers und verlasse die Wohnung. Dummerweise habe ich keine Ahnung, wie ich jetzt nach Hause komme. Ganz toll. Genervt öffne ich Google Maps, immerhin wohne ich erst seit einigen Monaten hier.

Ich suche mir eine Route raus, die kürzeste natürlich, und gehe los. Aber nicht ohne Kopfhörer, ohne die verlasse ich nicht das Haus. Ich bin keine große Musikerin, ich singe wie eine sterbende Katze, aber ich liebe es, Musik zu hören. Früher wollte Mom mir Klavierspielen beibringen, sie konnte wie eine Göttin spielen, aber schon nach wenigen Stunden hat sie es aufgegeben. Ihre Finger auf den Tasten erschufen eine Kunst, eigenes für meine Ohren.

Schönheit steckt in so vielen Dingen, aber meine Mutter war die reine Schönheit, in der so viel mehr steckte. Sie hatte nur mit dem Kopf über meine Versuche geschüttelt und gelacht. Aber zurecht, denn es klang, als würde das Klavier im Sterben liegen. Nach ungefähr einer Dreiviertelstunde biege ich endlich in unsere Straße. Wieder stehen die Männer in schwarzen Anzügen und ihren Sonnenbrillen da und ich nicke ihnen zu, wie ich es immer tue.

Im Fahrstuhl beginnt mein Körper, in wütender Erwartung zu kribbeln. Dieses Mal höre ich nicht das schreckliche Gedudel der Fahrstuhl-Musik. Was auch besser so ist, sonst könnte ich nichts mehr garantieren. im Takt meinem Lied wippe ich mit meinem Fuß auf und ab. Dann kommt der Fahrstuhl oben an. Er hat sich kaum geöffnet, da steht Braxton schon vor mir, mit verschränkten Armen vor der Brust und einem Blick, der so manch einen in die Knie gezwungen hätten. Nicht aber mich, ich habe ich an das stechende Grün seiner Augen längst gewöhnt.

»Du hast ziemlich lange gebraucht.«

Will er mir tatsächlich noch Vorwürfe machen? Dass ich nicht lache!

»Ja, habe ich. Ich bin nämlich zu Fuß hergekommen.«

Provokant verschränke ich ebenfalls meine Arme vor der Brust. Ein kleiner Trick, den ich früh gelernt habe. Sich dem Gegenüber in Haltung und Stimmlage anzupassen, sorgt dafür, dass man sich auf die gleiche Ebene der Kommunikation begibt.

»Oh.«

»Ja, oh.«

»Was hast du jetzt für ein Problem mit Ace?«, spreche ich weiter und sehe ihm direkt in die Augen, nur, um ihm nicht das Gefühl von Ergebenheit zu vermitteln. Er stöhnt genervt auf. »Mir gefällt das einfach nicht. Es ist eine Sache, wenn du mit Jungs auf Partys flirtest. Aber wenn du dich in jemanden verliebst...«

»Warum sollte dich das stören?« Mein Blick fängt den Seinen auf. »Es geht nur darum, dass du nicht verletzt wirst. Und wenn du wütend wirst, handelst du oft unüberlegt.«

Natürlich, das ist das Einzige, was ihn kümmert. Hauptsache, ich riskiere seine und meine Sicherheit nicht. Hauptsache, ich mache keine Probleme und bin leicht unter Kontrolle zu halten.

Nichts weiter.

»Ich bin nicht hergekommen, um mich von dir volllabern zu lassen«, sage ich nur und mache schon Anstalten, an ihm vorbei zu gehen. Doch er packt mich am Arm und hält mich fest. Seine Finger umklammern mein Handgelenk. Zu fest. Er ist mir gegenüber nie handgreiflich geworden, nie besitzergreifend. Warum denn jetzt? Wegen Ace? Ich versuche, mich aus seinem Griff zu winden, scheitere aber im Kampf gegen seine Muskelkraft.

»Ich will dich nicht volllabern. Es ist einfach wichtig.«

Sicher.

»Mag sein, aber du musst mir deswegen nicht gleich mein Handgelenk abreißen.«

Sofort lässt er mich los und murmelt eine Entschuldigung. »Ich verstehe dich nur nicht, Braxton. Auf einmal, völlig grundlos wirst du eifersüchtig und drohst mir damit, bei Ace zu Hause aufzutauchen, nur weil ich nicht nach Hause komme. Was soll das alles?« Er zuckt nur mit den Schultern. »Ich bin dein Beschützer, es ist meine Aufgabe.«

Enttäuscht trete ich einen Schritt zurück. Warum kann er nicht wenigstens ehrlich sein? Warum muss er mich genauso belügen wie es so viele vor ihm schon taten? Wie Dad es immer tat und noch immer tut?

»Na wenn das alles ist«, brumme ich entnervt und gehe an ihm vorbei. Dieses Mal hält er mich nicht auf.

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