Kapitel 22: Dianthus barbatus

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Ich lag wach im Bett und streichelte Fina über den durchscheinenden Kopf. Ich konnte nicht schlafen, auch wenn ich todmüde war. Etwas was ich bis jetzt verdrängte, hatte sich in meine Gehirnwindungen eingefressen und ich brachte es nicht mehr heraus. Lucans Augen. Das waren Grandmas Augen. Die stechend blauen Augen in Lucans Gesicht waren mir so vertraut gewesen, weil ich sie jeden Tag selbst sah. In Grandma Aignéis Gesicht, in dem meiner Mutter und in meinen eigenen. Und vorhin bei Enyas, die so gar nicht aussahen wie die ihrer Schwester. Und was es noch schlimmer machte, ich hatte sie bei Reul gesehen, als Mom sich mit ihm verbunden hatte.

Unwohl drehte ich mich auf die andere Seite. Ich hätte gerne etwas gelesen aber mein Buch lag auf dem Boden und ich wusste, dass Fina mir niemals verzeihen würde, wenn ich sie jetzt aus dem Arm legen würde. Diese stupste mich jedoch gerade an. Ihre dunkeln Knopfaugen schienen mich zu durchlöchern.

„Was soll ich denn tun? Soll ich Grandma Aignéis etwa fragen gehen?"

Ich bildete mir ein, dass Fina genervt die Augen verdrehte und lachte leise. Doch Fina sprang von meinem Bett herunter und rannte zur Tür. Sie blieb davor stehen, auch wenn ich wusste, dass sie theoretisch durch die Tür hätte hindurchgehen können.

„Du willst raus?"
Fina antwortete natürlich nicht, doch sie stupste die Tür nochmals an. Ich setzte mich auf und starrte die leuchtende Geisterratte an. Sie hatte Recht. Ich musste selbst etwas unternehmen. Und eigentlich wusste ich was ich zu tun hatte.

Seufzend schwang ich meine Beine aus dem Bett und stand auf. Ich machte mir nicht die Mühe mich richtig anzuziehen und tapste barfuss in kurzen Shorts und einem viel zu grossen Schlafshirt mit einem süssen Igel darauf in den dunklen Gang.

Finas schwaches Leuchten gab mir genug Licht, dass ich nicht in die Möbel reinlief.

Ich wusste ganz genau wo ich hinwollte. In die reguläre Bibliothek. Denn ich wusste von Brian, dass es dort so etwas wie ein Familienarchiv gab. Und das war genau das was ich brauchte. Ich wollte ein Foto von Grandma Aignéis. Der jungen Aignéis.

Ich schaute durch eines der hohen Flurfenster nach draußen. Nun war die Nacht wirklich dunkel und ich konnte kaum bis zum Waldrand hinübersehen. Doch dann erregte ein kleines Leuchten meine Aufmerksamkeit. Im Turm brannte Licht. Das konnte aber nicht sein, aus den Erkundungsgängen mit Brian und Viona wusste ich, dass dieser Turm gesperrt war.

Und doch leuchtete das oberste Fenster hell in der kühlen Nacht. Das Licht war stetig, es konnte also kein Feuer sein. Das Licht war eher weißlich und ich konnte auch keinerlei Bewegung hinter dem Fenster erkennen. Ich rieb mir die Augen. Doch das Licht blieb. Seufzend schüttelte ich den Kopf. Das musste bis Morgen warten.

Ich fand die Bibliothek erst nach dem zweiten Versuch, aber ich fand sie. Ich nahm Fina auf die Schulter und betrat den hohen Raum. Hier bestand die gesamte hintere Wand aus hohen Fenstern und ließ das helle Mondlicht herein. Ein unverkennbarer Geruch nach alten Büchern hing in der Luft und ich musste ungewollt lächeln. Auch wenn mein Leben gerade auf dem Kopf stand, der Geruch nach alten Seiten, der Druckerschwärze und dem Bindeleim würde mich immer beruhigen können.

Die Regale auf der hinteren Seite standen dicht an dicht und waren nach Themen geordnet. Vermutlich würde ich trotzdem vergeblich nach Fantasy suchen, aber dafür hatte es ein ganzes Regal voller Nordischer Krimis.

Der Großteil der Bücher waren jedoch alte klassische Literatur, Gedichtbände oder fremdsprachige Romane. Ich bezweifelt zwar das Grandma Aignéis rumänisch konnte, aber ich suchte trotzdem immer weiter.

Natürlich wurde ich erst im hintersten Teil des Raumes fündig.

Das Archiv war eigentlich nur eine große Kommode mit ganz vielen Fächern. Auf dem Möbelstück stand eine verstaubte Lampe, die jedoch sofort ein warmes Licht ausstrahle, als ich sie einschaltete. Auf jedem der kleinen Fächer stand eine Jahreszahl und ein Name. Im stetigen Licht der Lampe suchte ich nach dem Namen meiner Großmutter. Ich brauchte einige Minuten, denn aus einem mir absolut unerklärlichen Grund waren die Schubladen weder chronologisch geordnet, noch in alphabetischer Reihenfolge. Ich fand auch Tante Bedelias Schublade, ließ sie aber links liegen.

Doch bei einem Namen stoppte ich. Mícheál O'Brien. Mein Großvater.

Ich hatte Grandpa Mícheál nie kennengelernt. Er starb fast fünf Jahre bevor ich geboren wurde an einem Herzinfarkt. Laut Mom war er ein guter Mensch gewesen, doch er hatte zu viel gearbeitet. Er hatte eine eigene Reederei unten am Hafen und machte damit das große Geld. Laut Mom hatte er sie verkauft als sie ausgezogen war und hatte sich dann der Unternehmensberatung gewidmet. Das Haus hier war schon lange Familienbesitz und als einziger Sohn war es immer klar gewesen, dass er das Haus würde erben können. Er war selbst kein Hexer gewesen und Mom hat gesagt, dass er sich nie in die Angelegenheiten vom Zirkel oder dem Rat eingemischt hatte. Aber immerhin hatte er eine Hexe geheiratet und war nicht schreiend zur Polizei gelaufen... Oder zur Kirche...

Ich wusste auch noch, das Grandma Aignéis und er Nachbarn gewesen waren und sich schon ihr ganzes Leben lang gekannt hatten. Vielleicht wusste er es also schon von Anfang an.

Mit einem lauten Knarzen ließ sich die Schublade aufziehen und ich starrte auf ein riesiges Durcheinander aus Briefen, Urkunden und verblassten Fotos. Eine getrocknete weiße Bartnelke, vom Staub der Jahre grau gefärbt, lag auf einen Stapel Briefen. Ich nahm das erstbeste Foto aus dem Chaos und drehte es um.

Darauf war ein kleiner Junge zu sehen, kaum alt genug um in die Schule gehen zu müssen und lächelte mich mit einem zahnlückenverzierten Grinsen an. Das Foto war schwarz weiß und ich war mir sicher, dass es noch keine Handfotoapparate gab, als Grandpa Mícheál so alt gewesen war... Obwohl ich eigentlich unbedingt weitersuchen wollte, konnte ich mich nicht von der Schublade losreißen.

Das nächste Foto sah etwas moderner aus und war auf dem Grundstück aufgenommen worden, vermutlich irgendwo auf einem der Felder, die auf der anderen Seite des Hauses lagen. Ein Mann stand an einen hohen Heuballen gelehnt und lächelte selbstbewusst in die Kamera.

Grandpa Mícheál. Er war ein schlanker Mann mit einer außergewöhnlich hohen Stirn und einer großen Hakennase. Die mausbraunen Haare waren mit einer dicken Schicht Gel zurück frisiert und er trug einen dunklen Anzug. Seine dunkelbraunen Augen strahlten Selbstbewusstsein und eine gewisse Gewitztheit aus. Ich hätte ihn so gerne kennengelernt. Laut meiner Mutter war er ein toller Mensch gewesen...

Ich stockte. Grandpa war auf dem Bild nicht alleine, das hatte ich schon vorhin gesehen, doch erste jetzt wurde mir bewusst, was das zu bedeuten hatte. Vor ihm hockte eine junge Frau im Gras und lächelte fröhlich in die Kamera. Sie hatte lange rote Haare und unendlich viele Sommersprossen. Ihre Nase war beängstigend gerade und sie trug ein Armband aus eisernen Blüten. Ich drehte das Foto um. Die Schrift auf der Rückseite war bereits verblasst doch ich konnte die etwas chaotische Schrift trotzdem noch entziffern.

Mícheál O'Brien mit Nachbarsmädchen Aignéis Quinn.

Ich dreht das Bild noch einmal um und  traute meinen Augen nicht. Die wunderschöne strahlende Frau sollte Grandma Aignéis sein? Wo waren alle ihre Sommersprossen hin verschwunden? Das konnte doch nicht sein. Und dann kam mir die Erkenntnis. Aignéis Augen waren von einem hellen grün. 

Hexenstunde: Der ZirkelHikayelerin yaşadığı yer. Şimdi keşfedin