Kapitel 11: Prunus dulcis

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Zumindest wie eine Albtraumversion eines Pferdes. Das Pferd war riesig und vollkommen schwarz. Sein Mähne und Schweif sahen aus wie Gewitterwolken. Die gelben Augen flackerten wie eine Kerzenflamme im Wind. Aus irgendeinem Grund roch es nach verbrannten Mandeln.

Ich hätte am liebsten aufgeschrien, doch ich war wie erstarrt.

Ganz im Gegensatz zu meiner Mutter. Diese zog erschrocken die Luft ein.

„Reul."

Erstaunt sah ich sie an. Anstatt wie wir anderen zurückzuweichen, ging sie langsam auf die Kreatur zu, eine Hand ausgestreckt.

„Nein."

Daireanns Stimme war nur noch ein Flüstern. Doch auch sie rührte sich nicht von der Stelle. Meine Mutter ging vorsichtig auf die Kreatur zu. Einen Meter vor ihr blieb sie stehen. Die Gestalt hob den Kopf und sah sie eindringlich an. Das Pferd tänzelte auf der Stelle und warf den Kopf zurück. Das wäre schon bei einem normalen Pferd einschüchternd gewesen, doch jetzt...

Meine Mutter schien das anders zu sehen. Sie ging noch einen Schritt näher. Die Kreatur wich zurück und steige auf die Hinterbeine. Ich stiess einen Schrei aus. Ich sah meine Mutter schon blutend auf dem Boden liegen, getroffen von einem der Hufe. Doch diese wich nur geschickt einen Schritt zurück und wartete bis das Wesen sich beruhigt hatte. Dann schloss sie die Augen. Als sie diese wieder öffnete, leuchteten ihre Augen ungewöhnlich intensiv. Sie hob die Hand.

„Mo chroí beag"

Das Pferd blieb stehen. Dann schloss auch es die Augen. Ich hielt den Atem an. Als es den Kopf hob, leuchteten seine Augen im gleichen Blau wie die meiner Mutter. Neben mir hörte ich ein erstauntes Einatmen. Sowohl Sharni als auch mein Vater starrten mit grossen Augen auf die Szene vor uns. Doch meine Tanten schienen nicht im Geringsten erstaunt zu sein. Es sah eher so aus, als hätten sie das nicht zu ersten Mal gesehen...

Meine Mutter atmete tief aus.

„Hallo Reul. Schon dich wiederzusehen."

Die Kreatur wieherte leise. Dann veränderte sich seine Gestalt.

Es sah aus als würde das Pferd sich in nachtschwarze Wolken auflösen. Die Gestalt schrumpfte. Eine Sekunde lang konnte ich nur noch schwarze Schlieren erkennen, doch dann verzogen sich die Schwaden und och konnte die kleine Gestalt sehen, die vor meiner Mutter auf dem Boden sass.

Eine unglaublich zerzauste Katze mit dem schönsten Fell, das ich je gesehen hatte. Die Katze war besorgniserregend dünn, klein und von einem so hellen Grau, dass sie fast weiss wirkte. Riesige gelbe Augen starrten uns neugierig an und ich konnte die überdurchschnittlich langen, weissen Schnurhaare zittern sehen.

Es war fast so als hätte jemand eine Katze gezeichnet, der sich nicht mehr ganz sicher war, wie Katzen eigentlich aussahen.

Das schien meine Mutter jedoch nicht zu stören. Ohne zu zögern bückte sie sich und nahm die Katze auf den Arm. Der Katze schien das zu gefallen. Sie schmiegte sich wohlig an meine Mutter und schloss die Augen.

Niemand brach das Schweigen, das sich über das Anwesen gelegt hatte. Ich wusste nicht ob ich lachen oder lieber schreien sollte. Ich verstand nicht was hier eigentlich gerade passierte. Doch ich wusste auch nicht, was ich tun sollte. Meinen Tanten schien es ähnlich zu gehen.

Doch dann tat mein Vater einen Schritt nach vorne. Ich konnte sehen wie er zögerte, dann ging er langsam auf seine Frau zu. Als er neben ihr stehen blieb, sah sie auf. Ihre blauen Augen leuchteten in der dunkeln Nacht wie kleine Sterne.

Mein Vater räusperte sich.

„Möchtest du mir dein... Haustier nicht vorstellen?"

Meine Mutter lachte leise. Es war das erste Mal seit fast einem halben Jahr, dass ich sie lachen hörte.

Hexenstunde: Der ZirkelWhere stories live. Discover now