Kapitel 21: Verbena officinalis

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Ich zog die Jacke noch während dem Laufen an und fragte mich, wieso zur Hölle ich mich jetzt plötzlich so für Enya interessierte. Sollte sie sich doch erkälten und sich den Tod holen, ich könnte jetzt in meinem Bett liegen.

Doch als ich die grosse Eingangstür öffnete und in den peitschenden Regen trat gestand ich mir dann auch endlich selbst ein, dass ich mir Sorgen machte.

So schnell ich konnte stapfte ich durch den grünen Matsch, der wohl mal die gepflegte Wiese vor dem Haus hätte sein sollen. Innert Sekunden hatten sich meine einfachen Stoffschuhe mit Wasser aufgesogen und quietschten nun bei jedem Schritt.

Trotzdem lief ich immer weiter in den Regen hinaus, dessen dicke Tropfen schon fast schmerzhaft auf meine Kapuze fielen.

Ich erreichte den nördlichen Waldrand nur wenige Meter hinter Enya. Diese hatte den Kragen ihres Mantels hochgestellt und schaute konzentriert auf den Boden. Mit andern Worten, es war ein Kinderspiel, ihr zu folgen.

Sie bemerkte mich nicht als ich ihr bis zum inneren Ring aus Tannen folgte. Sie ging noch etwas weiter nach Norden, bis zu einem kleinen See auf der Lichtung.

Wenigstes wurde das Gewitter von den umliegenden Bäumen etwas abgeschwächt und ich wurde nicht gerade von der Insel gepustet. Ich blieb hinter einer hohen und vor allem breiten Tanne stehen und sah zu, wie Enya auf die Lichtung trat, die komplett mit Heidekraut bewachsen war.

Enya war vor dem See stehengeblieben. Sie nahm etwas aus ihrer Manteltasche, was ich erst im nächsten Augenblick als Feuerzeug identifizierte. Meine Cousine zündete ein kleines Bündel getrockneter Blumen an, eine ziemliche Leistung inmitten von strömenden Regen und Orkanböen.

Anschliessend faltete sie ihre Hände unter ihrem Gesicht, die rauchenden Blumen noch immer in der Hand. Langsam atmete sie den Rauch ein.

Sie stand vollkommen ruhig, wie eine Statue im Regen. Etwas an ihrer Haltung kam mir bekannt vor...Was genau..? der See. Sie benutzte den See als Seherschale. Aber was genau wollte sie denn sehen?

Enyas Stimme klang ruhig und fest.

„Viona O'Brien."

Sie hob die Hände gegen den Mond.

„Zeige mir Viona O'Brien."

Doch nichts geschah.

„Viona! Zeig mir meine Schwester!"

Mit einem Aufschrei sank sie auf die Knie. Der Regen fiel noch immer unaufhörlich und durchnässte Enya, die nun leise weinte.

Ganz leise räusperte ich mich. Enya drehte sich nicht mal um.

„Was willst du?"
Ich trat neben sie und liess mich auf das regennasse Gras sinken.

„Ich dachte du brauchst vielleicht jemanden zum Reden."

Enya antwortete nicht.

„Ich vermisse Viona auch."

Ohne auf meine Worte einzugehen griff Enya in ihre Manteltasche und holte ein Stück Papier hervor.

„Hier."

Sie streckte mir das Papier entgegen.

„Das wollte ich Viona zum Geburtstag schenken. Aber ich bin nicht rechtzeitig fertig geworden..."

Ich nahm ihr das Blatt aus der zitternden Hand und schützte es mit meiner Jacke vor dem noch immer fallenden Regen. Sie hatte Viona gezeichnet. Das Portrait sah so lebensecht aus, dass ich kurz dachte es sei ein Foto. Selbst die Blumenkrone, die Viona trug, sah aus, als könnte ich sie direkt aus dem Bild pflücken. Dann jedoch bemerkte ich die Ohren.

„Viona als Elfe."

Enya schluchzte nochmal.

„Sie wollte doch immer eine Fee sehen. Da dachte ich..."

Ich umarmte meine Cousine.

„Sie hätte es sicherlich geliebt."

Enya schniefte laut. Dann setzte sie sich gerade auf.

„Stimmt. Das hätte sie wirklich. Und ich kann es ihr ja immer noch geben."

Ihre rotgeränderten Augen schweiften über den See.

„Ich weiss dass du Viona magst. Und dass du denkst, ich hätte mich nie um sie gekümmert. Aber du hast keine Ahnung wie wir aufgewachsen sind. Daireann und Granny kontrollieren jeden unserer Schritte und meine Mutter..."

Sie schüttelte den Kopf.

„Als Viona noch ein Baby war, ist alles so anders gewesen. Meine Mutter war immer extrem vorsichtig mit Viona. Beinahe schon paranoid. Aber als wir dann hierhergezogen... Viona wollte alles über die Feen und Elfen wissen. Und meine Mutter ist fast ausgerastet. Seit dann ist alles den Bach runtergegangen."

Sie sah mich anklagend an.

„Viona wollte doch immer ein Teil der magischen Welt sein, obwohl sie keine Hexe ist. Das war das einzige was sie jemals wollte. Aber genau das hat Mom ihr verboten. Hat sie Brian überlassen und..."
Sie schluckte wieder.

„Nicht dass es einen Unterschied gemacht hätte. Diese Familie ist viel zu kaputt. Und was bringt es eigentlich, eine Hexe zu sein wenn man nichts hinkriegt?"

Das hatte ich mich auch schon gefragt.

„Warum... warum genau denkst du, dass es nicht funktioniert? Der Zirkel meine ich."

Enya fummelte gedankenverloren am Saum ihres Mantels herum.

„Wir sind nicht... wir verstehen uns nicht immer. Und ich glaube das ist eines der Probleme. Wir haben... kein gemeines Ziel, wie Ceara es ausdrücken würde."

„Die Akademie?"

Enya schüttelte den Kopf.

„Für Ceara vielleicht. Aber Shani will in ihrer Schule bleiben. Und Ceara kommt mit unserem Coven nicht klar. Sie glaubt, dass sie es besser machen kann, aber Granny lässt sie ja nicht mal zu den Ratsversammlungen mitgehen."

„Und du? Willst du denn nicht...?"

Enya wischte sich über das Gesicht.

„Und jeden Tag hören, dass ich gut genug bin? Oder schon in der ersten Woche rauszufliegen. Wegen meiner Gabe."
Ich wusste nur zu gut, was sie meinte. Ihre angebliche Hellsehergabe. Die sie so offensichtlich nicht hatte.

„Dabei sind wir nicht mal so schlecht. Ich meine... wenn man vom Unterricht mal absieht."
Ich sah sie fragend an. Doch Enya schiene es ernst zu meinen.

„Manchmal... wenn wir wütend werden oder wenn ich mir etwas sehr fest wünsche, dann passiert es. Ich glaube wir könnten... besser sein. Aber Daireann lässt uns nichts anderes tun als Anfängerzeug und wir schaffen es einfach nicht, uns zwei Minuten im gleichen Raum aufzuhalten, bevor wir und streiten."

Da hatte sie allerdings recht. Sie strich sich eine klatschnasse Strähne aus ihrem Gesicht.

„Ich gehe nach Hause. Es wird langsam kalt."

Ich nickte. Vorsichtig nahm ich das nun erloschene Blumenbündel vom Boden und roch daran. Huh. Eisenkraut.

Enya war bereits aufgestanden. Sie zog ihren tropfenden Mantel enger um sich. Kurz bevor sie in den Tannenwald trat drehte sie sich nochmals zu mir um.

„Kira..? Wirst du Grandma...?"
Ich schüttelte den Kopf. Sie lächelte mich erleichtert an. Ich stand auf um ihr zu folgen. Dann sah ich eine Bewegung im Wasser vor mir.

Zwei dunkle Augen sahen mich unbeweglich an.

Meine Haare hingen mir tropfend vor dem Gesicht und meine Kleidung war voller Schlamm. Ich verbeugte mich schwungvoll vor dem See, dann stolzierte ich möglichst aufrecht zu den Tannen. Ein leises Lachen, kaum lauter als das Plätschern der Wellen, folgte mir. 

Hexenstunde: Der ZirkelWhere stories live. Discover now