Kapitel 37

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J O H N
W E S T

Ich fuhr mit den Fingerspitzen über meinen nicht rasierten Bart. Ich sah wie ein anderer Mann aus. Jemand, den ich verabscheute.

Ich starrte mein Spiegelbild wütend an, erhob meine Faust und schlug gegen den Spiegel.

Blut spritzte auf und ein stechender Schmerz machte sich in meinen Fingerknöcheln breit - ein willkommener Schmerz.

Egal wo ich war, sah ich ihren Schatten. Selbst in einem leeren Raum. Sie war nicht hier, doch überall. Egal was ich tat, ich sah sie in jeder Ecke, hörte ihr Lachen. Wenn ich einschlief, sah ich ihr Lächeln vor mir und wie sie mich mit ihren strahlenden Augen angesehen hatte. Ich würde gerne viele Dinge rückgängig machen, damit ich hätte verhindern können was passiert war.

Ich sehe dich überall, Brooke...

Ich erkannte den Mann in dem Spiegel nicht. Seine Augen waren leer, seine Gesichtszüge wie aus Eis - eine undurchdringliche Maske. Manchmal konnte ich es nicht verdängen und ich musste an meine Familie und Freunde denken, aber dann dachte ich wieder, wie sehr ich sie verletzen würde, wenn sie bemerkten, dass ich nicht der John war, den sie kannten. Ich wollte nicht wissen, wie meine kleine Schwester Aria reagieren würde, wenn sie mich so vorfinden würde.

„John?"

Jemand drückte die Türklinke zu dem kleinen dreckigen Bad hinunter. Es war Derek, der Besitzer der Bar, in der ich arbeitete. Nach den ersten Wochen, als ich von Brooke's Tod erfahren hatte, hatte ich mich hierhin verirrt und mich jeden Abend volllaufen lassen. Jetzt arbeitete ich hier als Barkeeper.

„An der Theke warten Kunden. Könntest du kurz übernehmen? Ich muss hoch ins Büro, Papierkram erledigen."

„Ich komme", brummte ich genervt und trat aus der Türe.

Keine Ahnung, wie viel Uhr es war. Ich hatte seit Wochen nicht mehr auf die Uhr geschaut, weil ich nicht wissen wollte, wie viel Zeit verging, in der Brooke nicht bei mir war. Wüsste ich, wie viel Zeit nach Brooke's Tod vergangen war, würde mich das nur noch mehr fertig machen. Man sagte, dass die Zeit alle Wunden heilte. Das war eine Lüge, eine Illusion.

Draußen war es hell, also war noch nicht so viel los wie am Abend oder in der Nacht. Die Bar hatten 24 Stunden geöffnet. Zu dieser Tageszeit waren hauptsächlich Alkoholiker hier, die in der Nacht eingeschlafen sind, anstatt nach Hause zu fahren, wenn sie denn überhaupt eins hatten. Meistens waren es ältere Männer, die ich in den frühen Morgenstunden antraf. Sie saßen über ihr Bierglas gebeugt oder hatten sich auf dem Boden übergeben. Deswegen roch es hier auch dementsprechend.

„Morgen, Ted", begrüßte ich einen unserer Stammgäste. Er war einer dieser Männer, die die meiste Zeit ihres Lebens hier verbrachten. Die, die kein wirkliches Leben mehr da draußen hatten - so wie ich...

„Morgen, John", sagte er mit heiserer Stimme.

Manchmal fragte ich mich, ob der Mann überhaupt noch eine Lunge besaß. Er hatte sich schon seit er 15 Jahre alt war die Lunge mit Rauch vergiftet.

Ich hatte hier schon so einige Geschichten gehört. Als Barkeeper hörte ich alles mögliche. Leute bestellten ihre Drinks und erzählten mir von der anderen Seite des Tresen ihre Lebensgeschichten. Wie erfolgreich sie mal waren, wie sie abgestürzt sind, wie sie ihre Geliebten und Familien verloren hatten oder von alltäglichen Problemen, Versagen und ihren Ängsten. Man könnte sagen, dass ich sogleich Therapeut war.

„Möchtest du nicht mal nach Hause gehen?", fragte ich ihn und öffnete das Fenster zum Durchlüften.

„Nö", brummte er. „Mandy ist froh, wenn ich wegbleibe."

NEW YORKS HIGH SOCIETYWhere stories live. Discover now