Die Liste mit meinem Namen

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Bens p.o.v.

Verdattert starrte ich Lilly vor mir an, die offensichtlich nervös war.
Zu Recht. Verdammt, woher wusste sie davon? Und warum hatte sie das getan?
Bei der Vorstellung, wieder eine Gitarre in den Händen zu halten...
Was hätte Dad dazu gesagt?
Und warum fragte ich mich das überhaupt?
Wenn Dad noch hier wäre, hätte er mich mit diesem traurigen, selbstmitleidigen und auch teils anklagenden Blick angesehen.

Denn ich konnte noch spielen, während er es mit seinem falsch zugewachsenen Knochen nicht mehr konnte.
Durch seine Trauer hatte er mir kein Glück gönnen können.
Und es war dumm, wegen ihm nicht mehr zu spielen, aber allein der Gedanke, wieder eine Gitarre in den Händen zu halten....
Ich würde ihn verraten.

Und doch sehnte sich alles in mir danach, sehnte mich nach den Saiten auf meinen Fingerkuppen, nach den Tönen, die ich der Gitarre entlockte und nach dem Geruch, den das Holz verströmte.
Alles in mir sehnte sich danach.
Und doch...

"Warum?", fragte ich Lilly. Meine Stimme hörte sich so komisch an, also räusperte ich mich und fragte nochmals:
"Warum?"

Lilly zuckte mit den Schultern.
"Du hast dich die ganze Zeit nur um mich und meine Probleme gekümmert... vielleicht wäre es ganz gut, wenn du mal was anderes machst, dich auch mal auf was anderes konzentrierst."

Ich schluckte schwer. Sie hatte mir was Gutes tun wollen.
Woher sollte sie auch ahnen, was es mit der Musik und mir auf sich hatte?
Sie hatte mir nur helfen wollen.
So wie ich ihr, als ich mit Damien gesprochen hatte.

Tja. Nur garantierte die Intention, Gutes zu tun, nicht immer, dass man es auch tat.
Diese Lektion hatte ich bitter lernen müssen.
Andererseits...das mit mir und Damien war auch was gänzlich anderes gewesen.
Sie hatte nur meinen Namen auf eine Liste geschrieben. Ich konnte ihn wieder streichen.

Und das sagte ich ihr auch.
Ich verzieh ihr.
Erzählte ihr zwar nicht, was es mit mir und meiner Vergangenheit auf sich hatte, auch wenn ich ihre Blicke von der Seite spürte, aber ich verzieh ihr.
Ich wäre ja auch ein ziemlicher Heuchler gewesen, hätte ich es nicht getan.

Zusammen liefen wir also weiter nach Hause.
Sie drängte mich nicht, darüber zu sprechen, wartete wohl, dass ich selbst mit der Sprache rausrückte.
Aber ich blieb die nächsten Tage und das ganze Wochenende über still.
Ich rechtfertigte es mir selbst gegenüber, indem ich sagte, dass Lilly Priorität hatte. Dass ich mich erst um sie kümmern sollte.
So hatte ich mein Schweigen schon all die Monate lang gerechtfertigt, die wir nun zusammen waren.
Aber ganz ehrlich? Tief im Inneren wusste ich den wahren Grund.
Ich war einfach noch nicht bereit, darüber zu sprechen. Denn das hatte ich noch mit keinem getan.

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Montag nach dem Wochenende:

Kaum war ich in der Schule, ging ich sogleich zum Blackboard, um meinen Namen von der Liste zu streichen.
Ich hatte zwar am Wochenende darüber nachgedacht, aber ich konnte einfach nicht.
Es war mir egal, dass ich wieder einmal feige war und mich nicht traute, eine Gitarre in die Hand zu nehmen, obwohl alles in mir sich danach sehnte.

Wie oft war ich an Musikgeschäften vorbeigelaufen, hatte sehnsüchtig in die Schaufenster geschaut, war aber nie hineingegangen?
Nun, offensichtlich würde das noch eine Weile andauern.
Aber ich hatte ja sowieso kein Geld. Und ich würde niemandem vom Rudel bitten, mir eine Gitarre zu kaufen.
Schließlich war die nicht gerade sehr günstig...zumindest, wenn man eine gute Neue kaufte.

Also würde ich meinen Namen nun von dieser Liste streichen.
Dachte ich mir so.
Tja. Ich sah bestimmt ganz schön bekloppt aus, wie ich so mit einem Stift in der hochgehobenen Hand vor dem Blackboard stand und nach dieser doofen Liste suchte.
Nachdem ich bestimmt mehrere Minuten so davor stand, akzeptierte ich schließlich, was mir die ganze Zeit eigentlich schon klar war: die Liste war weg.
Was nur eins bedeuten konnte: jemand von der Schule hatte sie eingesammelt, um diesen Wettbewerb planen zu können.
Natürlich hätte auch irgendjemand diese Liste von dem Blackboard reißen und wegwerfen können, aber ich bezweifelte, dass ich so viel Glück hatte.

Na toll. Schließlich lief ich zu meinem Klassenraum.
Vielleicht war ich ein wenig vorschnell gewesen, als ich Lilly verziehen hatte.
Verdammt. Jetzt musste ich wahrscheinlich ins Sekretariat und die Sekretärin davon überzeugen, mich von der Liste zu nehmen. Aber wir hatten eine ziemlich unfreundliche Sekretärin. Eine, die bestimmt behaupten würde, noch nie von solch einer Liste gehört zu haben.

Im Klassenraum setzte ich mich auf meinen Platz neben Niklas, ein Mensch und guter Freund. Er hatte verwuscheltes Haar und trug ein T-Shirt, wo der Bandname Nickelback drauf stand.
"Hey, Alter, was ist denn los mit dir?", begrüßte er mich.

Kurzerhand erzählte ich ihm von meiner Misere.
Denn wie sagte man so schön? Geteiltes Leid ist halbes Leid.

Tja. Nur sah Niklas gar nicht mitleidig aus.
"Hey, das muss Schicksal sein!", rief er aus.

Verwirrt blickte ich ihn an. Schicksal?
Das glaubte ich kaum.
Doch er erklärte es mir freudig.

"Ich hab mich auch eingetragen, du weißt ja, dass ich Klavier spiele. Und ich hab zwar keine schlechte Stimme, aber deine ist besser. Du könntest zusammen mit mir auftreten! Na, wie klingt das für dich?"

Nun, solange ich keine Gitarre in die Hand nehmen musste...nicht mal schlecht.
Und wer weiß, vielleicht hatte Niklas Recht und das war wirklich ein Wink des Schicksals? Oder der Mondgöttin Luna, wie man es sah.

"Wir brauchen nur noch einen Song", meinte Niklas da.
"Wir können natürlich irgendeinen nehmen, den es schon gibt, aber ich würde gerne einen eigenen komponieren. Na ja, ich hab auch schon ein paar Entwürfe, aber beim Text hakt's bei mir. Ich kriege einfach keinen gescheiten Song aus mir raus. Du bist da nicht zufällig auch talentiert?"

Ein Songtext? Früher hatte ich gerne Songs geschrieben. Vor...all dem.
Aber das waren Kinder-Songs.
Ich glaubte kaum, dass ich was anständiges rausbringen konnte.
Allerdings sah Niklas mich so hoffnungsvoll an...

"Ich kann's ja mal versuchen", meinte ich schulterzuckend.

"Super, Mann!", rief Niklas freudig aus. Er war offensichtlich Feuer und Flamme für diesen Wettbewerb.

"Man darf drei Songs spielen", erklärte er mir dann.
"Meine Freundin wünscht sich zwar einen Liebessong von mir, aber na ja...ist nicht so meins. Ich dachte da eher an einen Rocksong. Vielleicht mit einem Liebestouch. Vielleicht auch..."

Ich hörte ihm gar nicht mehr richtig zu, denn eine Sache hatte sich in meinem Kopf festgehalten:
Meine Freundin wünscht sich zwar einen Liebessong von mir...
Ein Liebessong. Warum war ich nicht sofort auf diese Idee gekommen?
Welches Mädchen liebte es nicht, wenn man einen Song für sie schrieb?
Einen Song, nur für sie.

So könnte ich ihr meine Liebe beweisen. Und vielleicht würde sie dann endlich verstehen, dass wir zusammengehörten.
Dass sie mir alles erzählen konnte, auch die unangenehmen und schrecklichen Dinge.
Dass sie mich akzeptieren konnte.

"Ben?", blinzelnd erwachte ich aus meinen Gedanken.

"Sorry, was hast du gesagt?", meinte ich zerknirscht.
Niklas seufzte.
"Na, ich erzähle es dir später. Hat sowieso gerade geklingelt und du weißt ja, Frau Engelsmann ist immer mega pünktlich."

Das stimmte. Aber noch war sie nicht da.
"Hey, Niklas, würde es dir was ausmachen, wenn ich für Lilly einen Liebessong schreibe? Könntest du dann komponieren?", bittend blickte ich ihn an.

"Hey, klar geht das!" meinte er sofort.
"Wobei...", nachdenklich runzelte er die Stirn.
"Wenn du für dein Mädchen einen Song schreibst und ich nicht für meine Freundin, wird sie bestimmt sauer sein. Ach Mann...na, dann musst du noch für sie einen schreiben, okay? Aber falls jemand fragt: der kam dann von mir, klar? Haben wir einen Deal?"

Grinsend sah ich Niklas an.
"Oh, ja, wir haben einen Deal. Und zwar sowas von!"

Jetzt musste ich nur noch einen Song schreiben...
Nichts leichter als das, oder?

I wanna be free, MateWo Geschichten leben. Entdecke jetzt